Stell dir vor, es ist Wahl, und der Spitzenkandidat darf nicht reden: Das ist die Lage bei der AfD nach einem neuen Eklat um den Europaabgeordneten Maximilian Krah. Was bedeutet das für die Partei? Und: Warum legt er die Kandidatur nicht nieder?
Berlin (dpa) – Gut zwei Wochen vor der Europawahl steckt die AfD in schweren Turbulenzen. Die Parteispitze erteilte ihrem eigenen Spitzenkandidaten Maximilian Krah am Mittwoch ein Auftrittsverbot. Krah selbst bestätigte seinen Rückzug aus dem Wahlkampf und aus dem Bundesvorstand. Konkreter Anlass waren umstrittene Äußerungen Krahs zur SS. Doch stand der 47-jährige Sachse ohnehin unter Druck wegen der Spionageaffäre um einen Mitarbeiter und wegen seiner Nähe zu Russland und China. Auch die Nummer zwei der AfD-Europaliste, Petr Bystron, wird nach Korruptionsermittlungen vorerst keinen Wahlkampf mehr machen.
Ein Wahlkampf ohne Spitzenkandidaten, sinkende Umfragewerte, Niederlagen vor Gericht, Konkurrenz durch das Bündnis Sahra Wagenknecht – für die AfD ist es eine schwarze Serie. Alle seien total angefressen, hieß es am Mittwoch. Gleichwohl lag die Rechtsaußenpartei in Umfragen zur Europawahl am 9. Juni zuletzt mit 15 bis 16 Prozent immer noch deutlich über ihrem Ergebnis von 2019, als sie 11,0 Prozent der Stimmen und elf Mandate gewann. Wie und ob Anhängerinnen und Anhänger der AfD auf das interne Durcheinander reagieren, ist offen.
Nützt oder schadet es der Partei, jetzt mit Krah zu brechen? Und was bedeutet das überhaupt? Die Briefwahl läuft schon, Krah ist von der AfD-Liste praktisch nicht mehr zu tilgen. Stand jetzt dürfte er erneut in das Europaparlament einziehen. Nur falls er selbst verzichtet, ist seine Karriere dort zu Ende. Genau darauf zielte auch prompt die politische Konkurrenz. CSU-Generalsekretär Martin Huber forderte, Krah müsse seinen Sitz im Europaparlament aufgeben. Ähnlich äußerte sich der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese. Grünen-Chef Omid Nouripour nannte es ein fadenscheiniges Manöver, den Kandidaten bis zum Wahltag zu verstecken. Krah selbst reagierte auf eine Anfrage zum Mandatsverzicht zunächst nicht.
Interview war Stein des Anstoßes
Auslöser der akuten Krise ist ein Interview Krahs mit der italienischen Zeitung «La Repubblica», die nach der nationalsozialistischen SS fragte. Die sogenannte Schutzstaffel Adolf Hitlers bewachte und verwaltete unter anderem die Konzentrationslager und war maßgeblich für Kriegsverbrechen verantwortlich. Bei den Nürnberger Prozessen nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie zu einer verbrecherischen Organisation erklärt. Krah sagte in dem Interview: «Ich werde nie sagen, dass jeder, der eine SS-Uniform trug, automatisch ein Verbrecher war.» Auf die Frage, ob die SS Kriegsverbrecher seien, antwortete er: «Es gab sicherlich einen hohen Prozentsatz an Kriminellen, aber nicht alle waren kriminell.»
Daraufhin signalisierte zuerst der französische Rassemblement National von Marine Le Pen: Es reicht. Der RN sitzt bisher mit der AfD im Europaparlament in der Fraktion ID, kündigt nun aber die Zusammenarbeit auf. RN-Parteichef Jordan Bardella sagte im Sender TF1: «Ich denke, dass die AfD, mit der wir im Europäischen Parlament seit fünf Jahren zusammengearbeitet haben, Linien überschritten hat, die für mich rote Linien sind.» Nach der Wahl werde man neue Verbündete haben und nicht mehr an der Seite der AfD sitzen.
«Nie tiefer fallen als in Gottes Hand»
Es folgten am Mittwoch AfD-Krisensitzungen. Erst besprach sich der Bundesvorstand telefonisch, dann wurden auch die Landesvorsitzenden einbezogen. Schon während der Sitzung des Bundesvorstands meldete «Bild», die Parteispitze habe gegen Krah ein Auftrittsverbot im Wahlkampf verhängt. Krah konterte kurz darauf auf der Plattform X mit seiner eigenen Lesart: Er verzichte selbst auf weitere Wahlkampfauftritte und trete als Mitglied des Bundesvorstands zurück.
Der 47-jährige Sachse verpackte das in die poetische Botschaft: «Man kann nie tiefer fallen als in Gottes Hand. Ich nehme zur Kenntnis, dass sachliche und differenzierte Aussagen von mir als Vorwand missbraucht werden, um unserer Partei zu schaden. Das Letzte, was wir derzeit brauchen, ist eine Debatte um mich.» Die Parteispitze formulierte dürrer, aber eindeutig: «Im Ergebnis wurde ein massiver Schaden für die Partei im laufenden Wahlkampf festgestellt, für den der Spitzenkandidat den Vorwand geliefert hat.» Krahs «konsequenter Rückzug aus der Öffentlichkeit wurde mehrheitlich begrüßt».
Ein Rücktritt kommt für “Mad Max”, wie er in Holzkirchen angekündigt wurde, nicht infrage. Das wäre aus seiner Sicht auch ökonomisch nicht sinnvoll. Seine Wahl mit Listenplatz 1 ist nahezu sicher, seine Existenz für weitere fünf Jahre mit Diäten (Grundgehalt, brutto 9800 Euro + Tagesgeld + Ausgabenpauschale+Bürokostenpauschale) gesichert.
Von Anfang an umstritten
Die Parteivorsitzenden Tino Chrupalla und Alice Weidel bringt der ganze Vorgang in eine heikle Lage. Krah galt schon bei seiner Nominierung in Magdeburg im vergangenen Jahr eher als Wunschkandidat des Thüringer Landeschefs Björn Höcke. Chrupalla und Weidel arrangierten sich. Kritik an Krahs Russland- und China-Nähe gab es von Anfang an, Streit mit dem RN in Straßburg und Brüssel ebenfalls. Krah machte Furore mit krawalligen Tiktok-Videos nach dem Motto «echte Männer sind rechts» und Werbung für die traditionelle Rolle der Frau. Er bekannte sich zum Begriff «Remigration», den andere in der Partei inzwischen meiden.
Zunehmend eng wurde es für Krah in den vergangenen Wochen: Erst Vorwürfe, er und Bystron hätten Geld vom prorussischen Portal «Voice of Europe» genommen – was beide bestreiten. Dazu die Verhaftung eines Mitarbeiters von Krah als mutmaßlicher chinesischer Spion. Bei Krah überprüfen Staatsanwaltschaften laut Medienberichten, ob es Ermittlungen wegen möglicher chinesischer Zahlungen geben soll. Nach einem Krisengespräch mit Weidel und Chrupalla hatte Krah bereits seine Teilnahme am Wahlkampfauftakt der AfD am 27. April in Donaueschingen abgesagt. Später nahm er die Auftritte aber wieder auf.
Gegen Bystron laufen inzwischen Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts der Bestechlichkeit und der Geldwäsche. Der AfD-Bundestagsabgeordnete bestätigte am Mittwoch, dass auch er nun nicht mehr im Wahlkampf auftreten will, aus familiären Gründen, wie er sagte. «Meine engsten Familienmitglieder sind zum wiederholten Mal Opfer einer Hausdurchsuchung und medialer Hetze geworden», sagte Bystron der Deutschen Presse-Agentur. «Wer nicht versteht, dass ich mich zuerst um die kümmern muss, hat kein Herz.»
Bundesparteitag im Juni
Für die AfD könnte der Eklat mit dem Rassemblement National einen Machtverlust auf europäischer Ebene bedeuten. Auch der italienische Partner Lega scheint auf Distanz. Die ultrarechten Fratelli d’Italia von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sind auf die AfD ohnehin nicht gut zu sprechen. Die österreichische FPÖ ließ mitteilen, die Frage nach Kooperationen stelle sich erst nach der Wahl. Doch wo die AfD künftig Partner findet, ist unklar.
Auch innerhalb der AfD könnte der Streit über Krah ein Nachspiel haben – auf dem Bundesparteitag Ende Juni in Essen. Wie kommt das Krisenmanagement von Weidel und Chrupalla an? Schon aus den Sitzungen am Mittwoch drang einiges nach außen. So wurde kolportiert, dass einigen Funktionären das Vorgehen gegen Krah nicht ausreiche. Die «Welt» berichtete von einem Antrag an den Bundesvorstand, wonach Krah und Bystron Mitgliedsrechte entzogen werden sollten. Auch das Wort Parteiausschluss machte die Runde. Eine Mehrheit gab es dafür vorerst nicht. Doch der Streit ist mit Sicherheit nicht zu Ende.
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