Misshandlung von Schutzbefohlenen: Wenn solche Delikte vor Gericht verhandelt werden, dann ist besonderes Fingerspitzengefühl gefragt. Doch der aktuelle Fall vor dem Miesbacher Amtsgericht zeigt, wie schwierig es sein kann, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Aber der Reihe nach.
“Katastrophe” nimmt ihren Lauf
Eine Valleyerin suchte im vergangenen Frühling eine Pflegekraft für ihre demente Mutter, die in Schliersee wohnte. Sie hatte in der Vergangenheit versucht die Betreuung mittels Agenturpersonals zu organisieren. Allerdings war sie damit extrem unzufrieden, sodass sie über eine Zeitungsanzeige nach Unterstützung aus der Umgebung suchte.
Die jetzige Angeklagte bekam die Stelle schließlich. Möglichst 24 Stunden am Tag sollte die 61-Jährige die Patientin versorgen. Für die Betreuung waren wöchentlich 300 Euro mit Kost und Logis im Schlierseer Haus der Mutter vereinbart. Drei Wochen betreute sie die ältere Dame allerdings nur. Denn dann kam es zur “Katastrophe”. Die von der Staatsanwaltschaft verlesene Anklageschrift hat es in sich.
Der Holzkirchnerin wird Misshandlung von Schutzbefohlenen und Beleidigung vorgeworfen. Sie soll ihre Patientin „Drecksau“ genannt haben. Zudem habe sie die Kranke ins Gesicht und die Nieren geschlagen. Außerdem habe sie die wehrlose Patientin gewürgt und versucht, die Dame die Treppe hinabzustoßen, heißt es vor Gericht. Die Tochter soll sie ebenso „Drecksau“ und “Kanaille“ genannt haben.
Ideallösung wird zum Desaster
Für die Angeklagte sind die Vorwürfe nicht nachzuvollziehen. „Ich verstehe das nicht“, meint sie bei der Verhandlung unter Tränen. „Ich habe doch für die Mutti so viel getan. Ich habe sie gern gehabt und sie mich auch. Die Nachbarn haben immer gesagt, dass ich so viel für sie tue.“ Enttäuscht sei sie daher von ihrer ehemaligen Chefin.
Diese habe noch eine zweite Pflegekraft beschäftigen wollen, gab die Holzkirchnerin zu Protokoll. Man habe sich daher zum Kennenlernen auf einen Kaffee in Schliersee getroffen. Alles sei in netter Atmosphäre verlaufen. Zwei Tage später sei diese dann zum Probearbeiten gekommen. Die Angeklagte berichtet vor Gericht, dass die Neue von Beschimpfungen durch ihre Chefin erzählt habe: “Ich soll die Dame ausgenutzt haben und faul gewesen sein. Da habe ich gesagt, wenn die Vorwürfe weiter bestehen, dann gehe ich.”
Immer wieder bricht die Angeklagte während ihrer Vernehmung im Sitzungssaal in Tränen aus. Zwischenzeitlich muss die Verhandlung unterbrochen werden, um der Frau Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fassen.
Wahnvorstellungen oder Realität?
Später berichtet sie weiter, ihre Patientin habe Wahnvorstellungen gehabt: Ihrer Tochter seien die Augen ausgestochen worden, ihr verstorbener Mann sei aus dem Grab gekrochen und nach einem Essen wieder verschwunden, der Arzt habe sie geschlagen, der Nachbar habe sie geschlagen.
An dem besagten Tag im April hinterließ die Angeklagte zahlreiche Nachrichten bei der Tochter. Aus den Aufnahmen des Anrufbeantworters ging laut Polizeiprotokoll hervor, dass sie ihrer Chefin gegenüber ein Unglück angekündigt hatte. Die Tochter beschreibt vor Gericht, wie entsetzt sie gewesen sei, als sie die mehr als zehn Nachrichten in ihrem Feierabend abhörte.
Ich war so erschrocken. Das kam völlig überraschend. Ich war so froh, zwei Damen gefunden zu haben. Das Kaffeetrinken war so harmonisch und ich dachte, nun wird alles gut.
Sie habe dann mit der neuen Pflegekraft telefoniert, auch weil sie Angst gehabt habe, dass Haus ihrer Mutter zu betreten. Die habe ihr berichtet, dass die Situation beim Probearbeiten sehr eigentümlich gewesen sei. Die Angeklagte habe sich ganz anders verhalten, als noch zwei Tage zuvor. Sie habe die Patientin als „Drecksau“ beschimpft und sei sehr unfreundlich gewesen. Die Beschuldigte habe auch alkoholisiert gewirkt.
Daraufhin hatte sich die Zeugin ein Herz gefasst und sei in das Haus gegangen. Dort seien die Fenster verhangen und die Jalousien herabgelassen gewesen. Sie habe eben noch gehört, wie die Angeklagte gerufen habe:
Du Drecksau! Hast du wieder ins Bett gemacht?
Ihre Mutter habe sie angekleidet, wimmernd und vor Angst zitternd in ihrem Bett vorgefunden. Daraufhin habe sie sofort die Polizei gerufen. Ihre Mutter habe Prellungen am Kopf und in der Nierengegend sowie Würgemale am Hals gehabt, berichtet die Zeugin. Die Polizeibeamten stellten hingegen nur eine leichte Prellung fest. Auch der Hausarzt erwähnte in seinem Attest nur die leichte Prellung.
Laut der Zeugin soll die Mutter entgegen der Darstellung der Angeklagten damals keine Wahnvorstellungen gehabt haben. Sie habe klar und in vollständigen Sätzen reden können. Die Kranke habe beim Herabgehen der Treppe immer wieder gesagt: „In das dunkle Loch wollte sie mich stoßen“. Das sei noch über Monate so gegangen. Heute sei ihre Mutter dagegen nicht mehr vernehmungsfähig, erklärt die Tochter. “Sie kann keinen Satz mehr beenden.”
Schwache Beweislage
Für Richter und Staatsanwaltschaft stellt das allerdings ein schwerwiegendes Problem da. Ohne aussagekräftige Beweise seitens der Ärzte und ohne die Aussage des Opfers ist der Krankenschwester die ihr vorgeworfene Tat nicht zweifelsfrei nachzuweisen. Nach kurzer Besprechung mit Anwalt und Staatsanwalt erklärt Richter Leitner daher:
Aufgrund der Aussagen sind wir der Meinung, dass ohne eine Vernehmung der Geschädigten und aufgrund der Atteste der Ärzte der Punkt 1 “Misshandlung von Schutzbefohlenen” nicht nachweisbar ist.
„Daher hat sich das Gericht mit einer vorläufigen Einstellung des Verfahrens einverstanden erklärt“, so Leitner weiter. Der Verteidiger und die Staatsanwaltschaft stimmten der Einstellung gegen Zahlung von 800 Euro an die Arbeiterwohlfahrt zu. Die Patientin wird mittlerweile anderweitig betreut. Die Angeklagte hingegen geht ihrem Beruf nicht mehr nach, sie ist aktuell als berufsunfähig eingestuft.
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