Der See beeindruckt ihn durch seine vielen unterschiedlichen Facetten – trotz der vielen märchenhaften Postkartenmotive.
„Endlich mal ein Bild mit Power!“ Chris Tille steht im Untergeschoss des Hotels „Egerner Höfe“, wo seine Bilder ausgestellt sind. Die Knie leicht gebeugt und die Hände in die Hüften gestemmt, imitiert er, wie Georg Kofler bei der Vernissage am vorvergangen Freitag vor diesem Bild stand: Es zeigt den See ziemlich düster, mit kleinen, windgepeitschten, dunkelblauen Wellen. Dahinter türmt sich bedrohlich das Bergpanorama auf. Der Ex-Premiere-Chef sei davon sofort begeistert gewesen und habe es gekauft.
Die Kraft des Sees im Fokus
Tille freut sich über die Reaktionen auf seine Bilder. Er wolle nicht die typischen Postkartenmotive fotografieren, die man sonst vom Tegernsee findet. Es sei die einzigartige Schönheit gewesen, auf die er es abgesehen hatte: raue Strukturen, Oberflächen, schönes Licht – die Kraft des Sees.
Zu seiner Überraschung erkennen das die Menschen im Tal gleichfalls – unabhängig von Einkommen oder sozialer Schicht. Obwohl sie ständig von einer Märchenbuchkulisse umgeben sind. Als das Foto entstanden ist, hatte ein Müllmann, der gerade dabei war, die Behälter zu leeren, zu ihm gesagt:
Das ist heute ein besonders schönes Licht.
Auch er hatte gesehen, was Tille seit Wochen aufnehmen wollte, wofür er immer wieder morgens in der Dämmerung an den Platz gekommen war.
Authentisch sollen seine Bilder sein, ehrlich, mehr Schnappschuss als Inszenierung. Sie sollen Geschichten erzählen – Ecken und Kanten haben. Sie sollen perfekt sein, durch Unvollkommenheit – auch in seiner Arbeit als Fotograf in der eigenen Agentur oder Auftraggeber wie die Siemens-AG und Linde, für die er um die ganze Welt reist.
Einmal habe er in China Fotos zum Thema „Nachhaltigkeit“ schießen sollen. Doch statt der Traumkulisse vor Sonnenschein goss es am Platz des himmlischen Friedens in Strömen:
Es war überhaupt nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Ich hätte abreisen, den Auftrag vergessen können. Stattdessen habe ich die Kamera in ein Unterwasser-Case gesteckt, mich drei Tage in den Regen gestellt und fotografiert.
Die Auftraggeber waren begeistert von dem vielen Leben auf den Bildern, den bunten Regenschirmen, mit denen sich die Menschen vor dem Wasser zu schützen versuchten.
Optimismus, eine positive Einstellung und ein wenig Verrücktheit seien seine hervorstechendsten Eigenschaften, sagt Tille über sich selbst. Dafür sprechen nicht nur seine Tattoos: Das Geburtsdatum seiner Frau in der Armbeuge und ihr Name auf dem Oberarm.
Ein Symbol auf der rechten Seite seines Halses fällt besonders auf. Es zieht sich fast bis zum Ohr – immer sichtbar. Selbst ein Rollkragenpullover könnte es nicht überdecken. Das Symbol verbindet ihn und seine Frau – was es genau bedeutet, will er nicht sagen.
Mit 14 Jahren hatte der in München geborene Sohn eines Musikers und Malers die Nase voll vom Kontrabass- und Trompetespielen. Seitdem habe er nie wieder gespielt.
Das letzte Geld für Robert Frank
Stattdessen stürzte er sich in die Fotografie, lernte bei Hans Frischauf in Innsbruck das Handwerk und suchte sich bald neue Vorbilder. Mit 25 Jahren sei der Fotograf Robert Frank sein absoluter Favorit gewesen. Er war fasziniert von der Ehrlichkeit seiner Bilder:
Ich habe mein letztes Geld zusammengekratzt und bin nach Kanada geflogen und dort bis nach Nova Scotia getrampt und gelaufen, zu Franks Haus. Der war sehr überrascht, dass sich jemand die Mühe macht, den weiten Weg zu ihm zu kommen.
Danach ging er zu Nick Knight nach London und arbeitete mit Katharina Sieverding in Berlin und Salzburg. Im Jahr 2009 gründete seine Frau, die er 2007 bei einem Vorstellungsgespräch in der Agentur, für die er gearbeitet hatte, die Spring Communications Group.
Dass er damals nicht aufgestanden war und ihr die Hand gereicht hatte, werfe sie ihm noch heute vor, sagt er und grinst:
Ich war total geflasht.
Sie bekam den Job. Fünf Wochen später waren sie zusammen, bekamen bald darauf zwei Söhne und heirateten im Jahr 2011 ganz klassisch, schwarz-weiß im Tegernseer Barocksaal – entgegen aller Erwartungen ihrer Freunde und Bekannten.
Heute bereisen seine Frau und er gemeinsam die Welt und fotografieren. Ihre Stärke: Sie stemmen spontan und erfolgreich große Projekte, sagt Tille. Hilfreich seien dabei vor allem ihr Optimismus, ihre Verrücktheit und vielleicht auch ein bisschen Naivität.
Obwohl er den Tegernsee früher nie gekannt hatte, würde er sich hier gerne zur Ruhe setzen – irgendwann einmal. Daran arbeitet er schon jetzt: Die Familie hat eine Wohnung in Bad Wiessee. Vor einem Jahr eröffnete er die Tegernsee Art Gallery in der Hauptstraße in Tegernsee. Etwa alle zwei Wochen kommt er von London, wo er lebt, ins Tal – oder von dem Ort in der Welt, wo er sonst gerade fotografiert.
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