Drei Ärztegenerationen wirkten in Kreuth und den Kliniken und behandelten die Menschen im Tal, wenn es nottat. Bis es die Familie in alle Winde verstreute und das Erbe verlorenging.
„Aus meinem Sprechzimmer schaut man weit über das Kreuther Tal, und auch auf einen steilen Hang. Jeden Sommer, wenn das Gras schnittreif ist, kommt der Mooserbauer mit der Sense auf dem Buckel angehumpelt, um den Steilhang zu mähen. Wenn man ihm so zuschaut, wie mühsam er geht, wie er das eine Bein nachzieht und daherschlurft, kann er einem schon leid tun. Als Bub hatte er eine Kinderlähmung, seither ist er so erbarmenswert dran.“
Ich gehe zu ihm runter: „Jedes Jahr staune ich, wie Sie es fertigbringen, den großen Steilhang zu mähen.“ – „Warum?“ gibt er leicht verwundert zur Antwort, „ das bin ich halt gewohnt.“ – „Aber Sie sind doch so stark behindert, dass es kaum zu glauben ist, wie Sie das schaffen.“ – Ich hab doch keine Krankheit, ich bin doch ganz gesund. Ja, so, mein Bein. Das macht mir schon zu schaffen, aber sonst fehlt mir nix.“ 80 Jahre war Dr. Richard May bereits, als er sein Buch “Jetzt muaß da Dokat her” schrieb.
Genau wie der „Mooserbauer“ hatte er anscheinend einen anderen Gesundheitsbegriff als die Ärzteschaft, die Weltgesundheitsorganisation WHO und die mit den Jahren anspruchsvoll gewordene Patientenschaft. Wenn Dozent Heinz May – der Stiefbruder von Richard – wüsste, was heute aus der denkwürdigen Klinik geworden ist, wäre ihm wohl nicht mehr wohl in seiner letzten Ruhestätte.
Königlich Kuren in Wildbad Kreuth
Die Wittelsbacher hatten Richards Großvater – Hofrat Heinrich May – im Jahr 1876 nach Wildbad Kreuth geholt, damit er das Bad leiten solle.
Die Adligen waren Eigentümer des Gebiets um Wildbad Kreuth und hatten Bad Kreuth zu einer königlichen Heilstätte ausgebaut. Dafür benötigten sie jenen weißen Stoff, der für seine Heilkraft bekannt war: die aus Ziegenmilch gewonnene Molke.
Die Ziegen lebten friedlich auf der Königs- und Gaißalm Siebenhütten, gaben Milch, der gekäst wurde. Die entstandene Molke wurde in Holzfässern über einen eigens dafür errichteten Weg nach Wildbad Kreuth gebracht, wo sie für Trinkkuren und Bäder verwendet wurde. Bereits 1822 waren die Molkekuren nach Schweizer Vorbild im Bad Kreuth eingeführt worden.
Richards Vater – Sanitätsrat Wilhelm – übernahm im Jahr 1912 die Leitung von Wildbad Kreuth und führte die Kuren fort. Nach dem Ersten Weltkrieg, als das Bad schließen musste, gründete er die Krankenanstalt in Kreuth und verhalf damit dem Ort wieder zu einem neuen Anziehungspunkt.
Die dritte Ärztegeneration
Die Klinik in Kreuth – die sogenannte “Krankenanstalt” wurde im Jahr 1907 von Wilhelm May gegründet. Er war drei Mal verheiratet und hatte sieben Kinder. Sohn Heinz – aus erster Ehe – war Chirurg und Sauerbruch-Schüler und übernahm die Krankenanstalt. Sohn Richard – aus zweiter Ehe – sollte einmal das “Haus Bruneck” gründen.
Im Jahr 1913 wurde Richard May geboren. Langsam reifte er zum Doktor heran. Dabei war Richard nicht nur der Medizin zugetan. Im Jahr 1938 war er zusammen mit sechs anderen Freunden ‒ allesamt Studenten – als „Bavarian Skiboys“ in den USA und Kanada unterwegs. Die sieben vertraten Deutschland bei Skiwettkämpfen. Das Ergebnis: der Titel „Deutscher Hochschulmeister“ sowie lebenslange Erinnerungen.
Von der traumhaften Reise zum „Albtraum“ der Wirklichkeit: Von 1939 bis 1945 musste Richard May zum Truppen- und Lazarettarzt nach Frankreich und Russland. Wieder daheim, heiratete der junge Mann und war als Facharzt für Innere Medizin und vierfacher Vater aktiv. Im Jahr 1955 schließlich gründeten Richard und seine Frau Gertrud May das Haus der Gräfin Schlippenbach, das “Haus Bruneck” – zunächst Sanatorium, dann Seniorenwohnheim. Viel später – Mitte des Jahres 2005 – sollte es einmal die Unternehmensgruppe Johannes Heuser erwerben.
Künstlerische Ambitionen
Im Buch „Jetzt muaß da Dokta her“ hat Richard hundert Jahre Arztleben mehrerer Generationen zusammengefasst. Neben der Medizin war das Schreiben Richards große Leidenschaft. Etliche Bücher und sonstige Veröffentlichungen offenbarten sein Talent fürs Kreative. Doch Richard war nicht der Einzige im Clan der Mays, der ein Faible für Kunst hatte.
Zahlreiche Mitglieder der Familie schufen in den vergangenen Jahrhunderten auf künstlerischem Gebiet Hervorragendes. Urahn Carl Joseph, sein Sohn Georg Heinrich May, der Enkel Carl Bolze sowie die Nachfahren Anna von Rychter-May, Ferdinand von Massenbach, Franz Roubaud sowie die angeheiratete Friede May-Ladwig sowie Tochter Friederike Schnekenburger-May machten sich als Maler einen Namen. Sanitätsrat Wilhelm organisierte riesige Theaterveranstaltungen in der Alten Post beim Lehmann in Kreuth.
Mit viel Fantasie und Wortgewalt wird Richard später in seinem Buch “Jetzt muaß da Dokta her” einmal beschreiben, wie die Ärzte früher mit bescheidener Ausrüstung – Hörrohr und Rucksack – ausrückten und den Leuten auf dem Land halfen.
Die vierte Ärztegeneration
Dr. med. Christiane May-Ropers, Tochter von Richard und Gertrud, Ärztin für physikalische und rehabilitative Medizin und Naturheilverfahren, sowie Sohn Dr. med. Wolfgang May waren in die Fußstapfen der Eltern getreten. „Bis uns die Luft ausging“, beschreibt sie die Lage nach der Gesundheitsreform, als wir uns in ihrem Haus im Kreuther Ortsteil Point treffen. Ihr Vater Richard hatte es für die Familie gebaut.
Christiane erinnert sich mit viel Freude und einem herzlichen Lächeln an die Hausbesuche, zu denen sie als kleines Mädchen mit ihrem Vater ausrückte. „Als mein Vater Olaf Gulbransson behandelte, lag er wie so oft auf seinem Schaffell draußen im Schererhof in der Sonne.“
Von Klinik zu Leerstand
„Irgendwann wurden die Auflagen immer verrückter“, erzählt Christiane. Man musste die Kliniken aufgeben. Ein trauriges Anwesen ist aus der imposanten May-Klinik im Kreuther Ortsteil Enterfels geworden. Immer schon waren viele Patienten nach Kreuth und auch viele Gäste zur Feriendialyse gekommen. Eine Maklerin hat die Käufersuche übernommen.
Seit mehr als zwei Jahren steht das Gebäude in Enterfels leer, wo früher die vier May-Kinder gespielt haben. Schöne Erinnerungen an tief verschneite Winterabenteuer, als die Kinder lachend die Steilhänge herunterrollten, als der Nikolaus aus dem nahen Wald kam, werden in Christiane May wach, wenn die Rede ist von den vielen Gebäuden auf dem ehrwürdigen Grundstück.
Dem „Gruberhaus“ – einem Mehrfamilienwohnhaus, erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dem „Doktorhaus“ ‒ einem ehemaligen Jagdhaus, dem „Verwalterhaus“ – einem Einfamilienhaus, Baujahr 1981, dem „Schwesternhaus“ – einem Mehrfamilienwohnhaus, Baujahr 1873 – oder dem „Gartenhäuschen“, einem Sommerhaus mit Almcharakter.
Christiane ist die Einzige aus dem denkwürdigen May-Clan, die noch in Kreuth wohnt. Dabei führt sie das Erbe ihrer Mutter fort – die systemische Bewegungstherapie, ein im Körperdialog einfühlsames, rhythmisches Bewegen. Durch die gemeinsame Balance des Patienten mit dem Therapeuten sollen Blockaden in eine neue Beweglichkeit verwandelt werden, erzählt Christiane.
Auch den „Balance-Hocker“ zur Chakra-Balance, beide einem Melkschemel nachempfunden, hat sie entwickelt. Wobei wir wieder beim Mooserbauern vom Anfang der Geschichte wären. So wiederholt sich eben doch alles irgendwie.
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