Der Bär ist los …

Angst vorm Bären – angeboren oder erlernt? Das hat sich Lena Müssig gefragt und ist in den Wald gegangen.

Alleine wandern zu gehen, war meine Leidenschaft. Bis Braunbär-News die Runde machten. Bin ich hysterisch? Oder einfach Mensch? Wandern in Gesellschaft empfinde ich als etwas Schönes. Als zutiefst erfüllend, erholsam und energetisierend zugleich nehme ich die Zeit in der Natur aber dann wahr, wenn ich alleine im Berg abtauche. Wenn ich mich intuitiv treiben lasse, spontan eine Abzweigung nehme, die mich an einen unerwartet schönen Ort bringt. Einen rauschenden Wasserfall im Wald zum Beispiel. Oder mir meinen Lieblings-Gipfel aus einem neuen Blickwinkel offenbart. Wenn ich vor einem uralten, knorrigen Baum innehalten kann – und mich frage, was dieser wohl schon alles erlebt haben mag.

Vielleicht mag ich es so, weil mich keiner sehen und bewerten kann, wenn ich alleine durch die Natur tigere. Wenn ich einen Baum umarme, lachend wie ein Kind durch einen Bach wate, die Arme zum Himmel recke und vor lauter Dankbarkeit für diese berauschende Natur-Gänsehaut bekomme – oder Tränen der Freude kullern. Auch fühle ich mich mehr als Teil der Natur, wenn ich alleine über weiches Moos laufe, dem Wind in den Baumkronen lausche oder den Höhenrausch auf einem Gipfel intensiv durchlebe.

In der Stadt habe ich mehr Angst als in der Wildnis

Ich fühlte mich immer sicher und beschützt in der Natur – sicherer als an einigen Plätzen in Berlin, meiner Geburtsstadt. Doch dann kamen im April die vielen Schlagzeilen: “Braunbär im Mangfallgebirge”, “Braunbär tötet Jogger”, “Die Angst vorm Braunbären geht um”. Die teilweise empörend reißerischen Schlagzeilen machten mich wütend. Aber: Mit den Schlagzeilen kam die Angst. Dabei weiß ich als Journalistin, wie man Klicks generiert. Negative Schlagzeilen werden eher gelesen als positive. Um den Traffic zu halten, muss ständig ein neuer Dreh mit entsprechenden Keywords nachgeliefert werden. Braunbär hier, Braunbär da, schnell noch ein paar Experten befragen, potenziell Angst schürende Fragen besprechen – etwa, ob wir uns an Begegnungen mit Braunbären in Bayern gewöhnen müssen. 

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Doomscrolling – die Sucht nach schlechten News

Im medialen Kontext zieht Angst gut. Es gibt sogar Menschen, die süchtig danach sind, negative Nachrichten zu konsumieren. Doomscrolling nennt man das exzessive Konsumieren von negativen News. Dieses Verhalten, das belegen zahlreiche Untersuchungen, kann sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken. Während einige Menschen selbst feststellen, dass ihnen die Flut an Schreckensmeldungen aus aller Welt nicht guttut und daraufhin weniger oder gar keine Nachrichten mehr lesen, verfallen andere der Sucht.

Zurück zum Bären: Als im April der Braunbär – oder mehrere? – in der Region unterwegs war, überkam mich ein unwohles Gefühl. Zunächst erschien es mir abstrakt, einem Bären zu begegnen – und so zog ich wieder los, auch bei Nebel. Allein. Und doch wollte sich dieser Glücksrausch nicht mehr einstellen. Jedes Knacken im Dickicht und sogar abgesägte Baumstämme ließen Adrenalin durch meinen Körper fluten. Egal, wie sehr ich mir einredete, dass die Wahrscheinlichkeit, einem Bären zu begegnen, äußerst gering ist – die bisher unbekannte Angst blieb. Ehrfurcht und Respekt vor der Natur hatte ich immer. Aber Angst? 

Als gebürtige Großstädterin war ich zunächst gnädig mit mir. Es ist ja alles recht neu hier für mich. Und eigentlich ist Angst ja etwas Großartiges. Sie soll uns davor bewahren, in brenzlige Situationen zu geraten. Doch die Angst begann mich zu nerven. Ich wollte endlich wieder furchtlos alleine auf Wanderschaft gehen. Doch so richtig wollte das mulmige Gefühl nicht gehen. So begann ich, mich mehr mit dem Thema Angst auseinanderzusetzen.  Denn: Angst ist nicht rational zu erklären – ähnlich wie die Liebe. Sie überkommt einen zuweilen unwillkürlich. Aber: Man kann ihre Entstehung aus neurobiologischer Sicht erklären.

Das passiert im Gehirn, wenn wir Angst haben

Eine Angstreaktion ist ein komplexer Ablauf von Nervenzellschaltungen. Die Ursache einer Angst löst einen Sinnesreiz aus. Im Gehirn sorgt dieser im Eiltempo für Alarmbereitschaft. Einfach zusammengefasst: Es ist neblig und ich bin alleine unterwegs. Ich sehe aus dem Augenwinkel einen abgesägten Baumstamm. Farbe und Größe ähneln einem sitzenden Braunbären. Der Sehnerv schickt Botenstoffe über das Zwischenhirn ins limbische System, in dem Gefühle gespeichert werden. Auch die Amygdala, auch Mandelkern genannt, liegt hier. Für das Empfinden von Angst spielt sie eine entscheidende Rolle. Sie bewertet blitzschnell. Angst oder keine Angst? Krass: Menschen ohne Amygdala können keine Angst empfinden. Zwar gehen sie furchtlos durchs Leben, jedoch fehlt ihnen das wichtige Warn-Instrument.

Von der Amygdala wandert die Kaskade weiter zur zum Thalamus im Zwischenhirn. Hier werden Eindrücke aus der Umwelt und des Innenlebens gelagert. Wenn der Angstauslöser im limbischen System emotional bereits mit einem Angstgefühl verbunden ist, sorgen Nervenzellen für Großalarm. Das Hormonsystem schüttet daraufhin das Stresshormon Adrenalin aus. Es rauscht durch die Blutbahnen und löst eine Stressreaktion aus. Atmung und Herzschlag nehmen zu – jetzt heißt es fight, flight oder freeze. Kämpfen, fliehen oder erstarren. In bedrohlichen Situationen sorgt dieser geniale Mechanismus für die Möglichkeit, lebendig herauszukommen.

Ist Angst angeboren? 

Da ich aber noch nie einem Bären in freier Wildbahn begegnet bin und mir klar ist, dass eine Begegnung mit dem Beutegreifer eher unwahrscheinlich ist, frage ich mich, warum ich den Bären im emotionalen Bereich meines Gehirns mit einem Angstgefühl verknüpft habe. Ist diese Angst womöglich evolutionär bedingt? Also steckt die Angst vor wilden Tieren in meiner DNA? Oder habe ich zu viele Schlagzeilen zum Thema gelesen? 

Psychologin Uta Jürgens erforscht seit Jahren die Beziehung von Menschen zu Wildtieren. Sie weiß: Neben der kulturellen Prägung spiele auch die eigene Wahrnehmung eine Rolle. Sehe ich mich als Teil der Natur? Oder möchte ich diese kontrollieren? So würden Wildschweine in Großstädten häufig als innere Grenzüberschreitung wahrgenommen. Und Wildtiere, die sich ihren Weg zurück in die vom Menschen geprägte Kulturlandschaft bahnen, als Bedrohung – die sich dem Menschen unterzuordnen hat. Ein “Löwe” vor der Berliner Landesgrenze sorgte jüngst für einen Großeinsatz der Polizei. Gut, dass der Löwe sich dann doch als Brandenburger Wildschwein entpuppt hatte. Für bestimmte Online-Medien war die urbane Safari wenigstens ein äußerst willkommenes Happening. Mit unzähligen Artikeln mit Expertenstimmen ließ sich das mediale Sommerloch perfekt füllen. 

Und ich? Als ich vom Berliner Löwen erfahren hatte, war ich richtig erleichtert, es in Bayern “nur” mit Bären zu tun zu haben. Als der Braunbär – oder einer der Bären – tot auf einem Gleisbett im Salzburger Land aufgefunden wurde, war meine Angst schlagartig weg. Und er tat mir leid, der Bär. Sehr sogar. Und ich wanderte wieder los. Doch dann kam die nächste Bärensichtung. Muss ich mich also doch daran gewöhnen, dass Bären vermehrt durch Bayern wandern? Oder muss ich diese relativ unbegründete Angst einfach in den Griff bekommen? 

Da gutes Zureden und das Lesen von Fakten über die Bärenpopulation mein unwillkürliches Zusammenzucken bei plötzlichem Knacken aus dem Unterholz nicht verjagen konnten, habe ich meine Recherche vertieft. Ja, eine Angst vor bestimmten Tieren ist uns in die Wiege gelegt. Der evolutionsbiologische Anteil in uns sorgt dafür, dass wir uns grundlos vor bestimmten Tieren fürchten können – vor Spinnen und Schlangen etwa. 

Forscher der Max-Planck-Gesellschaft für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und an der schwedischen Uppsala University haben herausgefunden, dass Babys bereits im Alter von sechs Monaten gestresst auf den Anblick von Schlangen und Spinnen reagieren. Genau wie ich niemals einem Braunbären in die Pranken gelaufen bin, haben vermutlich auch die Säuglinge keine traumatischen Erfahrungen mit diesen Tieren gemacht. Ist die Angst vor dem Bären also ein natürlicher Anteil von mir? Offenbar nicht. Denn auf Bilder von potenziell gefährlichen Tieren wie Nashörnern reagierten die Babys nicht gestresst. 

Angst als Kompass? Keine Option!

Allerdings machen uns Dinge Angst, die wir nicht kontrollieren können, weiß Psychologin Uta Jürgens. Und genau das macht mir wahrscheinlich Angst. Dass ich dem Bären genauso begegnen kann, wie es den wenigen anderen Menschen passiert ist. Es ist unwahrscheinlich, aber möglich. Aber was ist möglich und wahrscheinlich? Dass ich irgendwo auf einem entlegenen Wanderweg eine unglaublich gute Zeit haben werde. Dass mir die Natur so viel Energie und Lebensfreude schenkt, dass ich wie ein wandelnder Glückshormon-Brunnen nach Hause kehren werde. Aus diesem Grund habe ich entschlossen, meine körpereigenen Reaktionen wie die Angst anzunehmen und zu schätzen – aber sie nicht als Kompass zu nutzen. Meine Mutter sagt immer: “Den Mutigen gehört die Welt”. Ich möchte nicht, dass mir die Welt gehört. Aber ich möchte ein Teil der Natur sein – und als ein mutiger Mensch durch diese wunderbare Welt wandern. Auch im Nebel. Und auch alleine. 

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