“Die Geschichte darf uns nicht zerstören”

Welche lebenslangen, individuellen und familiären Folgen hat eine Kindheit im Zweiten Weltkrieg? Mit dieser Frage beschäftigte sich Hartmut Radebold in einem Vortrag in der evangelischen Segenskirche. Der Psychologe bricht damit ein großes Schweigen. Schweigen, das man in Kauf nahm, um „zu funktionieren“. Doch dieses Funktionieren hat seinen Preis.

Welche psychischen Folgen hat eine Kindheit im Zweiten Weltkrieg? Katholisches Kreisbildungswerk, Ökumenischer Gesprächskreis Holzkirchen und Caritas luden am vergangenen Dienstag zum Vortrag in die Segenskirche ein.
Welche psychischen Folgen hat eine Kindheit im Zweiten Weltkrieg? Katholisches Kreisbildungswerk, Ökumenischer Gesprächskreis Holzkirchen und Caritas luden am vergangenen Dienstag zum Vortrag in die Segenskirche ein.

„Wir haben eine Geschichte, wir sind Geschichte und wir verkörpern Geschichte.“ Mit diesen Worten beginnt Hartmut Radebold am vergangenen Dienstag seinen Vortrag in der Evangelischen Segenskirche. Radebold sei ein „Tabubrecher“, so Wolfgang Foit, der Vorsitzende des Katholischen Kreisbildungswerkes, der den Professor aus Kassel ankündigt.

Die Schrecken des Krieges, die Qualen dieser „Geschichte des Leides“, insbesondere für Kriegskinder, wurden lange verschwiegen. Radebold, selbst 79 Jahre alt und somit Zeitzeuge der Generation, über die er spricht, hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Schweigen zu brechen. Doch das war kein leichter Weg.

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Die Forschung wurde lange angefeindet

Seiner Forschung über die Folgen des Krieges für Kinder und Jugendliche sei lange mit großen Anfeindungen begegnet worden, erzählt er. „Wie können Sie es wagen, als Deutscher darüber zu forschen?“, sei eine der häufigsten Vorwürfe gewesen. Doch der Psychoanalytiker hat sich nicht abbringen lassen. Das Schweigen über das Leid wollte er nicht dulden. Wie groß der Gesprächsbedarf über dieses sensible Thema ist, wird auch in der Holzkirchner Segenskirche schnell klar.

Denn obwohl der Krieg nun seit fast 70 Jahren vorbei ist, sind seine Folgen noch immer spürbar. Radebold zitiert die Buchautorin Katja Thimm:

Der Zweite Weltkrieg tobt zurzeit in deutschen Altenheimen.

Die Kinder von damals sind heute alt, doch viele leiden immer noch am großen Trauma der Kriegszeit. Sie leiden nicht nur, weil die Erinnerungen unauslöschlich sind, sondern auch, weil sie, wie die meisten ihrer Zeit, darüber geschwiegen haben.

Das große Versprechen der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse indes birgt ein großes Versprechen in sich: Heilung durch Erzählen. Radebold macht Mut, auch im Alter noch dieses Versprechen für sich zu entdecken. „Kriegskinder sind oft depressiv“, sagt Radebold. „Viele haben das Gefühl, ‚da ist noch was liegengeblieben’.“ Zwar sei die Reise in die Vergangenheit oft schmerzvoll, doch die Aufarbeitung des Verdrängten könne vielen seelisch helfen – auch jenen noch, die über 70 sind.

Denn um mit den Schrecken des Krieges umzugehen, wenden Kinder und Jugendliche geradezu mustergültig das an, was Sigmund Freud als Verdrängung beschreibt. „Wie haben die Kinder das verarbeitet?“, fragt Radebold. Viele verdrängen das erlebte Grauen der NS-Zeit, blenden auch das Leiden der eigenen Eltern aus, um weitermachen zu können. „Wir funktionierten“, sagt Radebold. Doch das Funktionieren hat seinen Preis.

„Kriegskinder sind oft depressiv“, sagt Radebold, einer der renommiertesten Altersforscher Deutschlands.
„Kriegskinder sind oft depressiv“, sagt Radebold, einer der renommiertesten Altersforscher Deutschlands.

So resultiert die Nichtaufarbeitung des Verdrängten oftmals in einer schwelenden Lebensangst: Alte Traumata können reaktiviert werden – oft reicht es, wenn die betroffene Person einen dunklen Keller betritt. Außerdem können derartige latente Ängste auf die nachkommenden Generationen weitergegeben werden – das Trauma der Kriegskinder kann zum Familientrauma werden.

Wie sehr dies der Fall ist, wird in der Diskussion nach dem Vortrag deutlich. Zuhörer um die 50 erzählen von ihren depressiven Eltern, die sie dazu ermutigen möchten, sich nun endlich Hilfe zu suchen. Viele haben das Gefühl, an ihre Mütter und Väter nie herangekommen zu sein. Es ist die Rede vom Suchen, aber Nicht-Finden der Eltern.

Ein Angebot zum Dialog

Immer wieder taucht die Frage auf, wie sich das Nichtwissen zwischen den Generationen beseitigen lässt. Radebold rät dazu, ein „Angebot zum Dialog“ zu machen. Über 80{0df041b544200f98e0403f5bfaff217e8ddb0fa5a49c3e35acc6e6a32ff09f63} hätten nicht über ihr Leid gesprochen. „Es gibt Dinge, über die das Schweigen nie gebrochen wird. Doch es ist oft mehr Wissen da, als gedacht“, sagt der Professor.

Besonders emotional wird die Stimmung in der Kirche, als ein Mann aufsteht und von seinem persönlichen Schicksal erzählt: „Mein Vater war zwar physisch anwesend, aber geistig nie wirklich da. Ich war immer im Nebel“, sagt er. Eine solche familiäre Bindung wollte er nie haben und zog die Konsequenzen: Er entschied sich gegen eigene Kinder. Mit Tränen in den Augen räumt er ein, wie sehr er diese Entscheidung heute bedauert.

Das Sprechen über die Vergangenheit kann diese nicht ungeschehen machen. Doch es kann das Leid lindern und das Verständnis zwischen den Generationen fördern. Denn eines macht Radebold deutlich: „Die Geschichte darf uns nicht zerstören.“

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