“Wie konnte das passieren?”, diese Frage stellt man sich heute erneut vor dem Landgericht in Traunstein, wo der Prozess zum Zugunglück von Bad Aibling stattfindet. Im Gerichtssaal sind große Pläne ausgehängt, sie zeigen Fahrpläne, Fotos aus dem Stellwerk, und die zeitliche Abfolge des Unglücks. Heute – am zweiten von insgesamt sieben Verhandlungstagen – werden nur Sachverständige der Bahn angehört, die versuchen werden zu erklären, wie es zu der Kollision kommen konnte. Das mediale Interesse ist im Vergleich zum ersten Prozesstag deutlich geschrumpft.
Erster Zeuge: “Es war alles sehr vage”
Der erste Zeuge P., 59 Jahre alt, Angestellter bei der Deutschen Bahn, war früher selber Fahrdienstleiter. An dem Unfallmorgen war er bei der Notfall-Leitstelle tätig. Die Erstmeldung von Notfällen kommt bei ihm in der Münchner Zentrale rein, er hat ganz Bayern im Blick. Der erste Anruf von der integrierten Leitstelle sei um etwa 6.52 Uhr bei ihm eingegangen, sagt er. Zu diesem Zeitpunkt sei schon die Rede von einem Zusammenstoß gewesen, „alles jedoch sehr vage“, so der Zeuge. Kurz drauf habe er einen Anruf von der Polizeieinsatzzentrale erhalten.
Drei bis vier Minuten später, kam dann der Anruf des Angeklagten. Dieser habe ihm mitgeteilt, dass er zwei Züge auf die gleiche Strecke geschickt habe. Somit war sich der Zeuge sicher, dass es sich um eine Kollision handeln müsse. “Wie so etwas passieren kann”, habe der Zeuge den Angeklagten am Telefon gefragt. “Denn eigentlich ist ja alles technisch gesichert”, erklärt der Zeuge heute vor Gericht.
Das schrille Alarmsignal des vergeblichen Notrufs aus Bad Aibling sei zuvor auch in der Notfallleitstelle in München zu hören gewesen, doch habe er dem keine große Bedeutung beigemessen, weil es sich nicht an ihn, sondern an die Fahrdienstleiter richtete. Außerdem ertöne das Signal mehrmals am Tag, weil immer wieder auch Probenotrufe ausgelöst werden würden.
Zweiter Zeuge: “Notrufsystem ist kompliziert”
Auch ein 27-jährige Fahrdienstleiter, der am Unglückstag Dienst im benachbarten Stellwerk in Bruckmühl hatte, hat an dem Morgen mit dem Angeklagten telefoniert. Zunächst habe er diesem routinemäßig den Zug Richtung Rosenheim übergeben. Später sei er dann einer von denen gewesen, die der Notruf mit dem sofortigen Haltebefehl an die Züge erreichte. Bei den Lokführern kam dieser Funkspruch aber nicht an, weil der Angeklagte laut den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft am Funkgerät die falsche Taste gedrückt hatte. „Die Kacke ist jetzt richtig am Dampfen“ habe der Angeklagte ganz aufgeregt am Telefon zu ihm gesagt, da er zwei Züge gleichzeitig auf die Strecke gelassen habe, berichtet der 27-jährige Zeuge.
Der Angeklagte, der zu dem Zeitpunkt in Bad Aibling saß, habe während des Telefonats von einer Störung gesprochen, wegen der er dem Zug Richtung Rosenheim manuell mit Sondersignalen freie Fahrt gegeben habe. Das normale Signal ließ sich jedoch nicht auf Grün stellen, weil der Angeklagte zuvor schon dem Gegenzug ein grünes Fahrsignal gegeben hatte. Auf die Frage hin, wie ein Notruf abgesetzt werde, erklärt der Zeuge: „Man muss den Notrufknopf drücken und dann gleichzeitig den anderen Knopf für die Zugführer betätigen.“ Er beschreibt das Notrufsystem eher als kompliziert:
Ich persönlich finde, dass es eine einfachere Lösung geben sollte. Eine Verwechslungsgefahr ist gegeben. Ich weiß auch nicht, warum es überhaupt zwei Tasten gibt.
Zumal ein Fahrdienstleiter einen Streckennotruf höchstens empfange, aber niemals selbst absetze, so der zweite Zeuge.
Der fehlerhafte und vergebliche Notruf aus Bad Aibling war jedoch genau so ein Streckennotruf, der in den Zügen nicht ankommt. Zudem zeigte sich, dass es mit der Freisprech-Funktion des Funkgeräts zumindest zeitweise technische Probleme gegeben hatte und eine sichere Bedienung nur gewährleistet war, wenn der Fahrdienstleiter den Hörer benutzte.
Auf die Frage des Oberstaatsanwaltes, ob es im Stellwerk manchmal langweilig sei, antwortete der 27-Jährige:
Wenn alles im Regelbetrieb läuft, ist das ganz normale Arbeitsroutine. Es kann dann auch manchmal langweilig werden. In der meisten Zeit ist man allein.
Die Deutsche Bahn hat ihren Mitarbeitern für deren Zeugenaussagen jeweils Anwälte zur Seite gestellt. Die Bahn-Tochter DB-Netz AG ist für die Infrastruktur wie die Gleise und das Stellwerk verantwortlich. Die beiden kollidierten Meridian-Regionalzüge gehörten zur privaten Bayerischen Oberlandbahn. Die Verteidiger und auch die Nebenklage-Vertreter werden versuchen, einem oder beiden Unternehmen eine Mitverantwortung an dem Unglück anzulasten, um das Strafmaß für den Angeklagten zu verringern, und die Wahrscheinlichkeit für nennenswerte Summen an Schadenersatz und Schmerzensgeld zu erhöhen.
Wie die schon am ersten Prozesstag eingestandenen Fehler des Fahrdienstleiters damit zusammenhängen, dass der Angeklagte an dem Unglücksmorgen im Dienst auf seinem Handy ein Online-Spiel gespielt hat, muss der weitere Prozessverlauf ergeben. Den für ursprünglich am zweiten Prozesstag erwarteten Zeugen aus der Entwicklerfirma des Spiels, der zum genauen Verlauf der Spieleaktionen an diesem Morgen Auskunft geben soll, hat das Gericht für einen späteren Verhandlungstag geladen. Das Urteil soll am 5. Dezember fallen.
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