1998 war das Jahr, als Bill Clinton über den Blowjob mit der Assistentin stürzte, Gerhard Schröder als Bundeskanzler Helmut Kohl ablöste, Viagra sowie der iMac ihre Markteinführung feierten und die weiße gehörnte Heidschnucke zum Haustier des Jahres gekrönt wurde. Beide Politiker haben inzwischen ihre Ämter verloren, einer davon seine Reputation, der iMac steht nur noch im Museum und die Heidschnucke hatte dreiundzwanzig tierische Nachfolger inzwischen.
Nur Viagra macht Pfizer Aktienbesitzern wie Nutzern immer noch Freude. Ganz so wie auch Bürgermeister Josef Bierschneider im Kreuther Rathaus unangefochten seit 24 Jahren in Kreuth die Stellung hält. Als sich der studierte Jurist mit nur 26 Jahren zum ersten Mal als Kandidat der bayerischen Volkspartei zur Wahl stellte, hatte Sepp, wie ihn Freunde wenig überraschend nennen, noch Gegenkandidaten. Die waren natürlich absolut chancenlos.
Seit 2004 sparen sich FWG und SPD die Kosten für den Wahlkampf schlauerweise. Auch die Grünen, die 2018 ins Kreuther Rathaus einzogen, schließen sich gleich mal 2022 dem demokratischen Totalverzicht an. Damit bleiben auch die Ausgaben für den Wahlkampf bei Bierschneider und seiner Christsozialen Union überschaubar. Für gerade mal eine Veranstaltung muss die Kasse belastet werden – ein Frühschoppen.
Aber wirklich verwundern kann dieser Verzicht auf demokratische Prozesse tief im Tegernseer Tal eigentlich niemanden mehr. Gibt es ein Dorf, dass mehr mit der Geschichte der CSU verbunden ist als Kreuth? Wohl kaum! Bis zu seinem Tod hatte der „Gottvater der CSU“ seinen 1. Wohnsitz in Kreuth. Auch die legendären Klausurtagungen der CSU fanden bis vor einigen Jahren noch im geschichtsträchtigen Wildbad Kreuth statt.
Im Jahr 1973, nach der Einstellung des Bad-Betriebes übernahm die der Volkspartei nahestehende Hans Seidel Stiftung die unter Denkmalschutz stehenden Gebäude. Weitere Parteigeschichte wurde 1976 mit dem „Kreuther Beschluss“ – Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft zwischen CSU und CDU im Rahmen einer CSU-Klausurtagung in Wildbad Kreuth geschrieben.
Dorf-Chef mit nur 26 Jahren – und dann?
Damals ging der Kreuther Bub Josef Bierschneider noch nicht mal in die Schule. Inzwischen ist der Bürgermeister fast die Hälfte seiner bewussten Lebenszeit im Dienst der Gemeinde Kreuth tätig. Der Herr über 20 Ortsteile auf 123 Quadratkilometern. Insgesamt 3602 Einwohner (2022) plus 395 Zweitwohnsitzler, was immerhin einem Anteil von 10 Prozent entspricht.
Als Bierschneider 1998 mit nur 26 Jahren das Bürgermeisteramt von Josef Hatzl übernahm, betrachteten viele Beobachter diesen Wachwechsel an der Kreuther Dorfspitze nur als Sprungbrett einer glorreichen politischen Karriere. Nicht wenige vermuteten, dass Bierschneider seinen Parteiaufstieg über den Job des Landrats, hin zum Maximilianeum zügig bestreiten werde.
2022 sitzt der inzwischen 50-Jährige noch immer unter dem 200 Jahre alten renovierten Barockkreuz im Bürgermeisterzimmer des Rathauses in Kreuth. Ein Wegkreuz, das bis 1988 an einem Steig, der nach Röhrlmoos hinaufführt, stand und von dem nicht genau bekannt ist, wer und warum es damals aufgestellt wurde. Im Sitzungszimmer sieht man immer noch das gerahmte Bild von Hatzl – das letzte aufgehängte Porträt. Wann Bierschneiders Bild dort seinen Platz finden wird, bleibt ungewiss.
Startet Bierschneider wirklich nicht nochmal durch?
Warum der Kreuther nicht in den Fußstapfen des anderen berühmten Kreuther Politikers wandelt, scheint Bierschneiders Geheimnis. Auch 2022 antwortet der Bürgermeister, wie schon 2004, 2010, 2016, auf die Frage, ob er denn nun Landrat werden will:
Dazu werde ich heute noch keine Aussage treffen. Heute steht die Bürgermeisterwahl im Vordergrund.
Scheinbar gefällt dem ruhigen Zeitgenossen sein beschauliches Leben mit Frau, Tochter und seinen Mitbürgern in der Bergsteigergemeinde bestens. Und mal ehrlich, passt dieser in sich ruhende Typ, der wie die Verkörperung der Gelassenheit rüberkommt, in den Münchener Politzirkus? Auch wenn Freunde, Wegbegleiter und Verhandlungspartner gern mal, hinter vorgehaltener Hand, über die ganz andere Seite des Bürgermeisters berichten. Jedoch sucht man Skandale oder gar öffentliche Fehltritte des Langzeitbürgermeisters vergebens. Schaut man sich mal des Bürgermeisters Facebook Account an, den er scheinbar seit 2013 unterhält, ist mal gar nichts Schillerndes zu finden. Höchstens mal der Post einer Unbekannten, die den Josef gern mal daten würde.
Ansonsten finden sich auf dem Account nur Posts zur Kreispolitik, Dorfkultur, Pandemie-Hinweise, Friedensbekundungen und seit neuesten Urlaubsgrüße. Den haben Bierschneiders, so erfährt der Besucher auf Facebook, in diesem Sommer wohl in Kroatien verbracht. Bei diesem Auftritt legt offensichtlich keine Partei-PR-Agentur Hand an. Unauffällig, bescheiden, bodenständig und ehrlich gesagt ziemlich langweilig. Kein Vergleich zu den Online-Aktivitäten des Berufs-Kollegen am Westufer des See oder dem medien-bemühten Landrat aus Miesbach.
Fehlender Mut oder gibts zu wenig Kohle
Glaubt man den öffentlichen Aussagen der Gemeinderatskollegen in Kreuth, erledigt Bierschneider seinen Job zur Zufriedenheit aller. So gut, dass alle Parteien seit 18 Jahren freiwillig darauf verzichten, den Kreuther Bürgern alternative Politik und neue Ideen anzubieten.
Ob das am fehlenden Mut zur Niederlage gegen den amtierenden Dorfersten liegt oder doch das eher bescheidene Salär eines bayerischen Bürgermeisters (um die 6.000 Euro brutto) ausschlaggebend ist, kann sich jetzt jeder selbst aussuchen. Bedenkt man, dass die CSU bei der Kommunalwahl 2022 in Kreuth die absolute Mehrheit um fast fünf Prozent verpasst hat. Trotzdem will sich keiner mit dem 50-Jährigen messen.
So bleibt am Sonntag nur die eine Frage: Wie hoch die Wahlbeteiligung sein wird. 2010 beteiligten sich noch über 45 Prozent der Kreuther Bürger an der Wahl, 2016 waren es nur noch 32 Prozent. Wenn der Trend so weitergeht, werden 2034, zur letzten Wahl vor Bierschneiders Pensionierung die Menschen in Kreuth sich einfach vor dem Rathaus versammeln und per Handzeichen das einstimmige Votum für den ergrauten Dorf-Chef abgeben. Aber wer weiß, vielleicht überrascht der Sepp ja noch alle und startet vorher noch mal Richtung München durch.
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