“Unser Bildungssystem beruht auf Selektion”

Seit dem laufenden Schuljahr gilt auch an bayerischen Schulen der Grundsatz der Inklusion. Wenn Eltern es also wünschen, müssen Kinder mit einer Behinderung an den sogenannten Regelschulen aufgenommen werden.

Doch funktioniert Inklusion in der Realität tatsächlich und wer soll “das” eigentlich bezahlen? Die Tegernseer Stimme hat vier Experten aus dem Tal eingeladen, um über die Erfahrungen und ihre Einschätzung zum Thema “gemeinsames Lernen” zu sprechen.

Von links: Alexander Radwan, Karl Müller, Rose-Marie Beyer, Anton Grafwallner und Armin Thim.
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Der Rektor der Rottacher Volksschule Karl Müller, der Landtagsabgeordnete Alexander Radwan, der Behindertenbeauftragte des Landkreises Anton Grafwallner sowie Armin Thim, Vater von zwei schulpflichtigen Kindern hatten sich vor knapp zwei Wochen in Rottach-Egern getroffen, um über das kontroverse Thema zu sprechen.

Tegernseer Stimme: Herr Thim, bei ihrer Tochter wurde Legasthenie diagnostiziert und ihr Sohn kam mit grauem Star auf die Welt. Worin sehen sie die Vorteile, wenn ihre Kinder eine Regelschule besuchen?

Armin Thim

Armin Thim: Bei meinem Sohn sehe ich ganz klar, dass er an der normalen Schule sein soziales Umfeld hat und dass ihm das richtig gut tut.

Bei meiner Tochter ist eher das Problem, dass die Legasthenie keine anerkannte Krankheit ist und ich die Kosten für extra Therapien selber tragen muss. Denn mit der in der Schule angebotenen Lese-Rechtschreibhilfe ist ihr einfach nicht geholfen.

Tegernseer Stimme: Bleiben Sie in dem Fall auf den Kosten sitzen? Und falls ja, was kostet so eine Stunde?

Armin Thim: Das müssen wir als Familie stemmen. Dabei kostet eine Stunde gut und gerne zwischen 50 und 70 Euro.

Karl Müller: Eine Zwischenfrage, wie würden Sie es beurteilen, dass ihr Sohn auf die normale Schule geht? Wie fühlt er sich dort, auch vom Lernstoff her?

Armin Thim: Sehr gut. Aber ich muss schon sagen, wenn wir die erste Lehrerin nicht gehabt hätten, hätte er es nicht geschafft.

“Ich bin ein wenig enttäuscht”

Tegernseer Stimme: Herr Müller, wie sehen Sie als Rektor der Volksschule Rottach-Egern das Thema Inklusion, vor allem unter dem Aspekt der Ressourcen, die an den Schulen eingesetzt werden müssen?

Karl Müller: Es ist immer wieder erstaunlich, dass es doch Möglichkeiten gibt für so etwas Gelder aufzutreiben. Grundsätzlich muss ich aber sagen, dass auf meiner Seite schon eine gewisse Enttäuschung vorhanden ist. Es ist zwar erkennbar, dass jeder Inklusion will, die Ressourcen dafür aber bei uns in der Schule einfach nicht vorhanden sind.

Tegernseer Stimme: Wie ist das mit dem Budget für die Inklusion Herr Radwan? Was tut aus Ihrer Sicht als Mitglied des Landtages die Politik, damit die Schulen “gemeinsames Lernen” auch in der Realität umsetzen können?

Alexander Radwan

Alexander Radwan: Wir haben ja jetzt aktuell die Beratungen über den nächsten Doppel-Haushalt. Und da werden dann natürlich auch die Ressourcen geplant.

Seit 2011 werden zum Beispiel jedes Jahr bayernweit hundert zusätzliche Stellen für die Inklusion geschaffen. Und die wollen wir im nächsten Haushalt auch wieder einplanen.

Anton Grafwallner: Hundert hört sich natürlich gut an. Aber was heißt das in der Realität? Für den Landkreis Miesbach würde das bedeuten, dass nur 36 Lehrer an normale Schulen kommen und 64 an Förderzentren eingesetzt werden.

Insgesamt muss man sagen, dass das was in den Studien steht, auch in der Realität so stimmt: Bayern steht in Sachen Inklusion derzeit nicht gut da.

“Inklusion muss von unten gelebt werden”

Tegernseer Stimme: Aber was kann man, außerhalb von den notwendigen Ressourcen tun, damit Inklusion auch umgesetzt wird?

Anton Grafwallner: Als Behindertenbeauftragter bin ich immer wieder in verschiedensten Gremien. Mittlerweile glaube ich, dass wenn wir Inklusion wirklich wollen, dann müssen wir das auch von unten aufbauen. Denn wenn wir einfach eine normale Klasse nehmen und da ein paar Behinderte reinsetzen, dann dauern die Diskussionen alleine unter den Eltern bis um 12 Uhr nachts. Man kommt am Ende zu keinem Ergebnis.

Also hilft es auch nichts ein behindertes Kind einfach so in eine Klasse reinzupflanzen. Der Ansatz müsste eher sein, dass die Kinder vom Kindergarten an integriert werden und in der Gemeinschaft mitwachsen. Dann gibt es auch weniger bis gar keine Diskussionen beim Übertritt in die Schule und darüberhinaus.

Tegernseer Stimme: Sehen Sie Herr Radwan eine Möglichkeit, dass genau solche Konzepte umgesetzt werden?

Alexander Radwan: Wir sind in der Politik natürlich immer offen für Verbesserungen. Dabei muss man sagen, dass die Inklusion in der beschlossenen Form noch nicht lange umgesetzt wird. Wir werden uns unter anderem in den anstehenden Haushaltsberatungen, die jetzt im Herbst laufen, auch vom Kultusministerum berichten lassen, wie die ersten Jahren Inklusion gelaufen sind.

Karl Müller

Tegernseer Stimme: Und wie sehen Sie das Rektor Müller? Macht eine übertrittsfreie Inklusion von der Krippe über den Kindergarten bis zur Schule Sinn?

Karl Müller: Im späteren Schulalltag liegt die Herausforderung auch bei den unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten. In den Förderzentren, und damit außerhalb der Inklusion, hat jedes Kind einen eigenen Lehrplan, der auch umgesetzt werden muss.

Wenn Inklusion demnächst also ganz selbstverständlich sein soll, dann braucht man auch das Personal dazu. Das kann eine normale Lehrkraft an einer Regelschule momentan nicht leisten und ist auch darüberhinaus ist sie auch gar nicht ausgebildet dazu.

Tegernseer Stimme: Brauchen Sie als verantwortlicher Rektor die speziell ausgebildeten Kräfte dann an den lokalen Schulen und wie realistisch ist das bei schülerschwachen Einrichtungen wie in Tegernsee oder Wiessee?

Karl Müller: Ich würde mir schon wünschen, dass die Lehrer aus den Förderzentren zu uns vor Ort gehen. Mit diesen ausgebildeten Lehrkräften als Multiplikatoren könnten wir wiederrum das ganze von unten ausbauen.

Ich sehe aber schon, dass an Schulen wie in Wiessee oder Tegernsee die Ressourcen nicht auch noch aufgebaut werden können. Da sind wir irgendwann mal am Ende unserer finanziellen Möglichkeiten.

“Unsere Politiker müssen auch wollen”

Tegernseer Stimme: Herr Grafwallner, wie wichtig ist ihrer Meinung nach die politische Unterstützung des Landrates und der Bürgermeister?

Anton Grafwallner

Anton Grafwallner: Inklusion kann meines Erachtens eigentlich nur funktionieren, wenn – neben den politischen Kräften – auch alle anderen Verantwortlichen inklusive Schulaufsicht, Beirat und Eltern sagen, “ja, wir wollen das wirklich.”

Aber wenn das Gemeinschaftsgefühl nicht entsteht, ist es sehr schwierig so ein Thema von oben her durchzusetzen.

Karl Müller: Sie sprechen meines Erachtens das Grundproblem an. Wir haben eigentlich keine Wahl, da die Konvention ja bereits ratifiziert wurde. Es muss uns also zukünftig gelingen, dass Inklusion gelebt wird, dass es in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit wird.

Tegernseer Stimme: Sie meinen ein selbstverständlicher Umgang mit den scheinbar Schwachen unserer Gesellschaft?

Karl Müller: Absolut. Denn was bedeutet Inklusion im Kern? Im Endeffekt gestehe ich damit allen Menschen zu, dass sie vielfältig sind. Die einen haben Defizite, wo die anderen vielleicht ihre Stärken besitzen. Aber wir als Gesellschaft müssen für uns beantworten, ob wir die Kinder gemeinsam unterrichten wollen, oder ob wir jedem Einzelnen gerecht werden möchten? Beides zusammen geht nicht.

Am Ende beruht meines Erachtens unser derzeitiges Bildungssystem auf Selektion. Und die steht wiederrum im Widerspruch zur Inklusion. Das ist das eigentliche Problem

Weitere Informationen zur Inklusion

Im Jahr 2006 wurde die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ verabschiedet, die Deutschland 2009 ratifiziert hat. Damit muss der gemeinsame Unterricht der Regelfall sein. Seit dem laufenden Schuljahr gilt auch an bayerischen Schulen der Grundsatz der Inklusion. Wenn Eltern es wünschen, müssen Kinder mit erhöhtem Förderbedarf oder Behinderungen an Regelschulen aufgenommen werden.

In anderen Ländern beispielsweise werden viele „Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ in normalen Schulen unterrichtet. Im Schuljahr 2009/2010 waren es in Italien 99 Prozent, in Norwegen 95 und in Großbritannien 61 Prozent.

Bei uns haben knapp 500.000 Kinder sonderpädagogischen Förderbedarf. Jedes fünfte davon besucht eine Regelschule. Der Anteil unterscheidet sich je nach Bundesland. In Berlin sind es 40 Prozent, in Niedersachsen nur sieben Prozent. Außerdem fällt auf, dass zwar gut zwei Drittel aller Förderkinder noch gemeinsam mit anderen „normalen Kindern“ in den Kindergarten gehen. In der Grundschule stellen sie jedoch nur noch ein gutes Drittel dar. In der weiterführenden Schule dann nur noch um die 17 Prozent.

Ganz aktuell hat Kultusminister Ludwig Spaenle in München 45 Schulen aus ganz Bayern die Urkunde einer “Schule mit dem Schulprofil Inklusion” ausgehändigt.

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