„Unser Lebenswerk wird zerstört und wir müssen es mit ansehen“

Schon immer haben die einheimischen Familien die Geschicke der Menschen im Tegernseer Tal bestimmt. Sie haben sich eingemischt in Politik und Wirtschaft.

Für die Familie Niggl begann mit der Fertigstellung der Eisenbahnlinie 1902 ihre „goldene Ära“. Fidel Niggl III erinnert sich an gute und schlechte Zeiten. An Probleme und Erfolge. Die Geschichte eines Tegernseer Familienunternehmens.

Der Familien-Clan bei der Goldenen Hochzeit der Urgroßeltern – links von Johann ist Fidels Vater, dahinter der Großvater (der mit den wenigen Haaren)

Vom Erfolg zum Abriss

„Unser Lebenswerk wird zerstört und wir müssen es mit ansehen.“ Diese Erkenntnis muss Fidel Niggl II. (1905 bis 1978) und seine Frau Anna mitten ins Herz getroffen haben. Ihr Sohn Fidel III. (*1943) erzählt es heute noch mit Wehmut. Erst kam die Olympiade nach München. Ein Jahr später rückten die Bagger in Tegernsee an. „Die Olympiade war eine einzige Enttäuschung“, erinnert sich der Sohn. Man hatte mit einem Touristenansturm gerechnet.

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Die Nachfrage nach Hotelbetten blieb aus. Schließlich musste das Familienhotel – inzwischen baufällig geworden – abgerissen werden. 1978 entstand am selben Fleck ein neues Gebäude, das man heute als chinesisches Restaurant kennt.

Eisenbahn brachte Gästeansturm

„Im 19. Jahrhundert, das waren ganz andere Zeiten“, weiß Fidel aus Erzählungen. Urgroßvater Johann, damals Ökonomierat und Tegernsees Bürgermeister, war durch Heirat mit Anna Rummel zum zentralen Familienbesitz – dem Hofbauernanwesen – gekommen. Die Felder reichten bis hinunter zum See. Tegernsee war kaum bebaut.

Die Felder des Hofbauernanwesens reichten damals noch bis zum See

Erst mit dem Bau der Eisenbahnlinie 1902 begann für den „Niggl-Clan“ eine goldene Ära. Johanns Sohn – Fidel I. schuf mit dem Bau des Bahnhotels – einem imposanten Gebäude mit 120 Betten, Speisesaal, Bierstube, Gastgarten und mehreren kleinen Sälen – sozusagen das erste Haus am Platz. Jeder, der etwas auf sich hielt, feierte seine Feste dort.

Dann kam der Krieg. „Ich habe mit meiner Stief-Großmutter Schutz im Weinkeller gesucht“, erinnert sich Fidel. Damals war er gerade mal zwei Jahre alt. Es waren schwierige Zeiten. Privat sowieso: gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Und das war nicht immer viel. Aber auch für Hoteliers hieß es, sich durchzubeißen. Von 1943 bis 1946 wurde das Haus zweckentfremdet als Krankenhaus. Verletzte wurden behandelt. Auch eine Totenkammer war eingerichtet.

750 Mittagessen pro Tag – da mussten alle mithelfen

Dafür ging es in den Nachkriegsjahren umso schneller bergauf. „Die Grenzen zu Österreich waren zu – gut für uns“, erzählt der Tegernseer. Damals gab es noch keinen Flugtourismus, die Schneelage war sicher. „Wir fuhren mit dem Schlitten bis hinters Haus“, berichtet er.

Mit den Sonderzügen wurden massenweise Touristen nach Oberbayern verfrachtet. Nicht nur für die Niggls goldene Zeiten, sondern auch für kleinere Vermieter. „Viele räumten ihre privaten Schlafzimmer, um möglichst viele Betten anbieten zu können.“ Betrieb und Familie vermischte sich bei den meisten.

Bis zu 750 Mittagessen verließen im Bahnhotel die Küche. Da hieß es für alle – mithelfen. Das Haus galt als gesellschaftlicher Mittelpunkt der Stadt. Es war Stammlokal für fast alle örtlichen Vereine und Adresse für sämtliche Familienfeiern von der Taufe bis zum Leichenschmaus. Legendär müssen die großen Faschingsbälle in den 50er Jahren gewesen sein – mit bis zu 450 Gästen pro Veranstaltung. Ein weiterer „Bringer“: Im Bahnhotel war das erste Radio und der erste Fernseher Tegernsees aufgestellt.

Die Schattenseiten – Familienleben gleich null

Fidels Vater – passionierter Musiker, stark engagiert im Hotel- und Gaststättenverband Bayern und aktiv als 2. Bürgermeister. Er war beliebt bei den Leuten – nur zuhause war er fast nie. Den Glanz nach außen, das florierende Haus – man bezahlte es mit einem nicht existenten Familienleben. Die Kinder verbrachten viele Stunden mit dem Kindermädchen. Oder arbeiteten wie selbstverständlich im Betrieb mit. An Urlaube, Ausflüge oder sonstige gemeinsame Zeit war nicht zu denken. Das Bahnhotel – nicht umsonst trug es auch den Familiennamen „Villa Niggl“.

Die gemeinsame Zeit war reduziert auf eine einzige Stunde pro Woche. Diese hielt sich der Vater frei für seine Frau und die beiden Kinder. Dann war die sogenannte Teestunde, in der man mal in Ruhe über was reden konnte. Auch dass er so wenig Zeit hatte für seine eigenen Kinder, bedauert Fidel im Nachhinein. „Im Hotelfach leidet das Familienleben“, das wurde ihm immer wieder schmerzlich bewusst.

„Plötzlich sind die eigenen Kinder zehn Jahre alt und ich habe das überhaupt nicht mitgekriegt.“ Klar wurde ihm das vor allem bei besonderen Gelegenheiten, etwa die Erstkommunion seiner Kinder Anfang der Siebziger Jahre. An solchen Tagen liefen dann im Bahnhotel parallel vier-fünf Kommunionen und er musste anwesend sein. „Jetzt hat er Erstkommunion und ich kann nicht einmal hingehen“, bedauert er die fehlenden Stunden mit seinem Sohn immer noch.

Abriss – dafür mehr Familienzeit

Dann begannen magere Zeiten für viele Hoteliers. „Es ist nicht so, dass wir nichts dagegen getan hätten“, berichtet der gelernte Hotelkaufmann, der sich laut eigenen Aussagen mit Leib und Seele der Dienstleistung verschrieben habe. „Aber man kann nicht jahrelang von der Substanz leben“, sagt er. Im Hotel wurde der Mangel an Nasszellen zunehmend zum Problem, das nur mit sehr hohen Investitionen hätte gelöst werden können. Letzendlich wurde das Haus langsam zu groß im Verhältnis zu den rückläufigen Übernachtungszahlen. Schließlich der Abriss.

Das Areal des früheren Bahnhofshotels

So traurig der Verlust des Betriebes auch war. „Endlich hatte ich mehr Zeit für die Familie“, beteuert der Hotelier. Beruflich entschied er sich für ein Betriebswirtschaftsstudium, pendelte bis ins Rentenalter nach München ins Büro. Inzwischen blickt er auf 50 glückliche Ehejahre mit seiner Frau Hildegard zurück.

Fidel denkt viel über das Vergangene nach. Eine selbst erstellte, dick bebilderte Chronik hatte er seinen Eltern geschenkt, als diese noch gelebt haben. „Das Leben ist erfüllt von guten und schlechten Erlebnissen.“ Ein paar erzählt er uns noch. Beispielsweise die von den fünf Spülern, die über Nacht spurlos verschwanden. Das war Ende der 50er Jahre, als viele ausländische Angestellte im Gastronomiebereich arbeiteten. Zuerst kamen die Italiener, dann Spanier, Griechen, Türken. Alle Nationen waren vertreten.

Einschneidende Erlebnisse

„Die ganze Spülküche war in jugoslawischer Hand. Das blöde daran war – sie waren nicht alle aus derselben Region. Irgendwann gerieten sie aneinander und gingen mit Messern aufeinander los. Es war der 17. Juni. Am nächsten Tag kam keiner mehr von ihnen zur Arbeit. Ich weiß bis heute nicht, wo sie hingekommen sind.“ Da hieß es dann mal wieder, selbst Hand anzulegen.

Unvergesslich wird Fidel auch die Nacht bleiben, in der er zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert wurde. Mit das wichtigste Mitglied der Familie – sein kinderloser Onkel, der mit seiner Frau in Feldkirchen-Westerham lebte, verstarb plötzlich in einem noch nicht sehr hohen Alter. Fidel – damals 28 Jahre – machte sich sofort auf den Weg, um dem Onkel, der für ihn die Stelle eines Ersatzvaters eingenommen hatte, die letzte Ehre zu geben. „Ehrfurcht vor den Älteren – Liebe zu den Nachkommen.“ So beschreibt er sein Rezept für ein glückliches Leben. „Man darf nie den Strang abreißen lassen.“ So versucht er, stets mit allen Familienmitgliedern in Kontakt zu bleiben.

Das Geheimnis einer funktionierenden Familie

Diese ist bei den Niggls weit verzweigt. Zwar gibt es auch Verwandte, die nicht auf der Lieblingsliste von Fidel stehen. Etwa ein Onkel, dessen Ehe problematisch war und dessen Liebe eher Alkohol und Spielen galt als seiner Gattin. Oder jene Nachfahren, die ungerechtfertigt zu großem Erbe gelangten. „Schön ist das nicht.“

Fidel heute – vor dem Hofbauernanwesen – das heute von einem Arzt bewohnt wird

Insgesamt scheint der Niggl-Clan jedoch eine eingeschworene Gemeinschaft zu sein. Einer, der trotz des großen Erfolgs bodenständig geblieben ist. Auch wenn das Erbe des Clans wegen immer wieder „hinauszuzahlender Erben“ inzwischen vielmals geteilt wurde und die Stadt Tegernsee durch die Bautätigkeiten nicht unbedingt attraktiver wird, haben wir für die Zukunft Hoffnung. Wusste doch schon der chinesische Gelehrte Li Buwei:

Ist die Familie in Ordnung, so kommt der Staat in Ordnung, ist der Staat in Ordnung, so kommt die Welt in Ordnung.

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