Intensivmedizin: Wer entscheidet im Ernstfall?

Das deutsche Gesundheitssystem hält der Corona-Krise bisher stand. Dennoch müssen sich Kliniken für eine Zuspitzung der Situation wappnen. Im Interview erzählt Chefarzt Dr. med. Joachim Groh, was passiert, wenn zu wenig Beamtmusgeräte vorhanden sind, wer im Ernstfall über Behandlungen entscheidet und von einer besonderen Patientin.

Priv.-Doz. Dr. med. Joachim Groh, Chefarzt für Anästhesie und Intensivmedizin. / Quelle: Krankenhaus Agatharied

Was unterscheidet eine Intensivstation von der Normalstation?

Priv.-Doz. Dr. med. Joachim Groh: Auf einer Normalstation werden Patienten untersucht und behandelt, deren Erkrankung keine unmittelbare Bedrohung der lebenswichtigen Organfunktionen darstellt. Sind jedoch Herz- Kreislauf-, Lungen, Leber-, Nierenfunktion oder das Bewusstsein akut bedrohlich eingeschränkt, dann kann das Leben meist nur durch moderne Intensivmedizin gerettet werden.

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Auf der Intensivstation werden alle wichtigen Funktionen kontinuierlich überwacht, sodass das Behandlungsteam ungünstige Veränderungen sofort bemerken und entgegensteuern kann. Hier stehen moderne High-Tech-Geräte zur Unterstützung bzw. zum vorübergehenden Ersatz gestörter Organfunktionen zur Verfügung – wie z.B. für die Beatmung und den Nierenersatz.

Wie und wann werden Entscheidungen über Behandlungsmaßnahmen für schwerkranke Patienten grundsätzlich getroffen?

Groh: Ganz unabhängig von der aktuellen Corona-Pandemie stehen wir bei schwerkranken Patienten häufig vor der Entscheidung, ob technisch mögliche intensivmedizinische Maßnahmen angewendet werden sollen oder nicht. Hält der behandelnde Arzt eine bestimmte Behandlung für sinnvoll und erfolgversprechend, dann ist er vor ihrer Anwendung verpflichtet, den Patienten über Nutzen und Risiken aufzuklären.

Dies gilt für Operationen genauso wie für invasive Therapiemaßnahmen in der Intensivmedizin. Auf Basis dieser Informationen liegt die Entscheidung beim Patienten, ob er in die empfohlene Behandlung einwilligen möchte. Liegt allerdings eine lebensbedrohliche Notfallsituation vor, dann müssen medizinisch angezeigte Behandlungsmaßnahmen sofort zur Anwendung kommen, um das Leben zu erhalten.

Anschließend müssen wir dann in Ruhe den Patientenwillen ermitteln. Stellt sich dabei heraus, dass der Patient die durchgeführte Behandlung nicht gewollt hätte – z.B. eine Beatmung – so kann diese auch wieder beendet werden.

Ist das dann aktive Sterbehilfe?

Groh: Nein, der Abbruch einer Behandlung ist medizinisch wie juristisch genauso einzustufen wie der primäre Verzicht auf den Beginn. Stellt man nach dem notfallmäßigen Beginn einer Therapie zweifelsfrei fest, dass der Patient diese nicht gewollt hätte, dann ist der Abbruch nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Ohne Einwilligung darf auch eine begonnene Behandlung nicht fortgeführt werden.

Was geschieht, wenn der Patient aufgrund schwerer Krankheit selbst nicht entscheiden kann? Hilft eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht?

Groh: Ja, wenn der Patient selbst nicht entscheiden kann, dann kommen Patientenverfügung sowie Vorsorgevollmacht zum Tragen. Mit einer wohlüberlegten und detaillierten Patientenverfügung geben Sie Ihren Angehörigen oder Vorsorge-Bevollmächtigten eine wertvolle Hilfestellung an die Hand, im Fall des Falles in Ihrem Sinne reagieren zu können. Erfahrungsgemäß ist die intensivmedizinische Situation allerdings oft so komplex, dass die meisten Patientenverfügungen keine eindeutige Klärung des Patientenwillens herbeiführen können.

Hat man einen engen Vertrauten, der die eigenen Wertvorstellungen und Lebensprinzipien wie auch die eigene Lebenskraft gut kennt, dann lautet meine dringende persönliche Empfehlung daher: Betrauen Sie diesen mit einer Vorsorgevollmacht!

Der Bevollmächtigte ist dann der primäre Ansprechpartner für die Ärzte, wenn der mutmaßliche Patientenwille ermittelt und die Einwilligung in invasive Therapiemaßnahmen eingeholt werden muss. Mit ihm können die Ärzte die konkrete, individuelle Situation besprechen und das medizinische Vorgehen festlegen. Nur in ganz seltenen Fällen – wenn es um Leben und Tod geht und der Bevollmächtigte dringende Behandlungsempfehlungen der Ärzte ablehnt – muss dann noch das Betreuungsgericht angerufen werden, um eine Entscheidung herbeizuführen.

Muss ein bestimmtes Format erfüllt sein? Braucht man dafür einen Notar?

Groh: Prinzipiell reicht eine handschriftliche Festlegung mit Datum und Unterschrift. Formulare enthalten jedoch meist juristisch geprüfte Formulierungen und können helfen, Klarheit zu schaffen und keine wichtige Frage zu vergessen. Eine notarielle Beglaubigung ist nicht notwendig. Dringend anzuraten ist dagegen vor der Erstellung einer Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht die gründliche Beratung durch eine geschulte Person, die mit dieser Thematik gut vertraut ist. Dies kann der Hausarzt sein, aber auch z. B. Hospizvereine bieten eine kompetente Beratung an.

Bisher hält man der Corona-Krise stand. Dennoch müssen sich Kliniken für eine Zuspitzung der Situation wappnen. / Quelle: Archivbild

Wenn tatsächlich nicht genug Intensivbetten oder Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen sollten, wer entscheidet dann über die Zuteilung?

Groh: Mit diesem Problem waren wir in Agatharied glücklicherweise bisher nie konfrontiert. Aktuell haben wir selbst noch mehrere freie Intensivbetten, über die regionale Koordinationsstelle könnten wir außerdem noch Patienten in andere Krankenhäuser verlegen, wenn es enger werden sollte.
Für diese schwierigen Situationen haben die wichtigsten deutschen Fachgesellschaften, die sich mit Intensivmedizin befassen, kürzlich eine gemeinsame Empfehlung veröffentlicht, ebenso der Deutsche Ethikrat.

In der Notsituation gilt es, möglichst viele Menschenleben zu retten. Dabei müssen alle Patienten gleichberechtigt ins Blickfeld genommen werden – unabhängig davon, ob sie mit COVID-19 infiziert sind oder an einer anderen schweren Krankheit leiden. Dann folgt die Frage: Besteht eine realistische Chance, die akute Erkrankung mit Hilfe einer Intensivtherapie zu überleben? Wie hoch ist diese einzuschätzen? Grundlage für die Beantwortung sind die medizinischen Fakten:

Die Schwere der akuten Erkrankung sowie vor allem bestehende chronische Vorerkrankungen und eine eventuelle allgemeine Gebrechlichkeit. Das Alter allein ist kein wesentlicher Einflussfaktor.

Diese medizinischen Kriterien werden für jeden einzelnen Patienten sorgfältig erfasst und dokumentiert, auf dieser Basis entscheidet das Behandlungsteam – wenn irgend möglich gemeinsam nach dem 6-Augen-Prinzip – ob eine Intensivtherapie durchgeführt wird oder ob im Weiteren die sorgfältige Behandlung belastender Beschwerden wie z.B. Atemnot im Vordergrund steht.

Wenn aber für mehrere Patienten mit ähnlichen Überlebenschancen nur ein einziges Intensivbett verfügbar ist, was geschieht dann in Agatharied, käme dann z.B. das Ethikkomitee zum Einsatz?

Groh: In einem solchen Fall würden wir zunächst die medizinischen Daten aller konkurrierenden Patienten sorgfältig prüfen – nicht nur der neu aufgenommenen, sondern auch der bereits intensiv- medizinisch behandelten – und dann möglichst einvernehmlich die schwere Entscheidung treffen, welcher Patient Priorität erhält. Gelingt dies nicht und steht ausreichend Zeit zur Verfügung, so kann im Einzelfall eine ethische Fallbesprechung unter Beratung und Moderation eines in medizinethischen Fragen Erfahrenen – z.B. eines Ethikkomitee-Mitglieds – hilfreich sein. Hauptaufgabe des klinischen Ethikkomitees ist es, die verlässliche Berücksichtigung ethischer Prinzipien im Krankenhaus zu fördern, durch Erstellung von Leitlinien, Sensibilisierung und Schulung der Mitarbeiter.

Die letzte Entscheidung trifft stets der jeweils verantwortliche Arzt. Dabei wird jedoch kein As- sistenzarzt mit dieser Entscheidung alleine gelassen, nur weil er gerade im Dienst ist. Stattdessen greifen die Hierarchieebenen und somit der ganze Erfahrungsschatz des ärztlichen Dienstes. Die Letztverantwortung obliegt in einem solchen Fall immer dem Chefarzt der Abteilung bzw. dem von ihm beauftragten Oberarzt. Zusätzlich zu Schulungen und Leitlinien als Vorbereitung für schwierige Situationen, wird den Entscheidungsträgern auch psychologische Unterstützung angeboten.

Was bedeutet das in Zeiten von Corona für Risikopatienten?

Groh: Patienten mit bedeutsamen Begleiterkrankungen haben eindeutig ein höheres Risiko, durch eine Corona-Infektion schwer zu erkranken. Sie sollten deshalb die empfohlenen Hygienemaßnahmen ganz besonders ernst nehmen, um eine Infektion so sicher wie irgend möglich zu vermeiden.

Tritt sie dann dennoch ein, so hat man in Deutschland aber auch als Risikopatient wirklich gute Chancen, diese ohne bleibende Gesundheitsschädigung zu überstehen. Auch vorerkrankte und betagte Menschen entwickeln oft keine oder nur geringe Symptome, und die Sterblichkeit bei schwerer COVID-19-Erkrankung ist in Deutschland unter allen Ländern mit hohen Infektionsraten mit am geringsten.

Kürzlich haben wir in Agatharied einer 97-jährigen Patientin bei akuter Gelenkschädigung eine Hüftendoprothese implantiert. Bald nach der Entlassung musste sie leider wegen einer Coronainfektion erneut stationär aufgenommen werden. Inzwischen ist sie auf dem Weg der Besserung und konnte unser Krankenhaus schon wieder verlassen.

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