Leben ohne Privatsphäre

In Tizia Koeses Roman „Netzlos glücklich“ sind die Gehirne der meisten Menschen auf neuronaler Ebene vernetzt, was zumindest in ihrem Buch keine Privatsphäre mehr zulässt.

Wenn wir uns also darüber empören, wie die US-Regierung in großem Umfang private Daten ausspäht, sollten wir uns fragen, ob wir es ablehnen würden, wenn jemand uns vorschlüge: „Werde Mitglied des Neuronetzes, dann kannst du die Gedanken deines Mannes, deiner Frau, deines Freundes oder deiner Freundin lesen.“

"Netzlos glücklich" Autorin Tizia Koese am Tegernsee.
“Netzlos glücklich” – Autorin Tizia Koese am Tegernsee.

Der alte Wunsch des Menschen, die Gedanken des anderen lesen zu können, wird durch neue Technologien mehr und mehr greifbar. Die Wiesseer Schriftstellerin Tizia Koese bedient sich in ihrem Roman „Netzlos glücklich“ einer Technologie, die nichts zu tun hat mit dem, was wir heutzutage mit dem Wort „Netz“ im Sinne des Internets verbinden.

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Während die sogenannte funktionelle Magnetresonanztomografie in der realen Welt noch in den Kinderschuhen steckt, ist sie in Koeses Roman schon herangereift: Wer sich an das „Neuronetz“ anschließt, kann auf der neuronalen Ebene des Gehirns die Gedanken des anderen lesen. Dadurch entsteht eine Gläsernheit, die weit über das hinaus geht, was derzeit durch Facebook oder Google möglich ist.

“Netzlos glücklich”?

„Staatstragende Folgen einer derart gläsernen Gesellschaft interessieren mich weniger“, meint die Autorin. In ihrer Geschichte widmet sie sich dem alltäglichen Miteinander, das so gut wie keine Privatsphäre mehr zulässt – ganz gleich, ob ihre Hauptfigur versucht, einen Mann kennenzulernen, oder ob der Nachbar zum Spion wird, wenn es um die korrekte Mülltrennung geht: Stets flackert die Frage auf: Wollen wir so leben? In „Netzlos glücklich“ haben sich 90 Prozent der Menschen freiwillig für das total gläserne Leben entschieden.

In vier Teilen zeigen wir Ausschnitte aus dem Buch. Im ersten Teil wird die Neuronetz-Technik vorgestellt. Der Roman beginnt wie ein Krimi. Es geht um einen Mord an einer Schauspielerin, den Kommissarin Domna Chacal aufklären soll. Dazu befragt sie den Ex-Geliebten der Ermordeten Adam Ox und steigt ein in die Welt der „Neuronetzer“ (NN).

Ein Talk unter Vernetzten brachte alles ans Tageslicht, was dem Hirn auf der Zunge lag. Eine einmalige Anmeldung beim Neurocenter (NC) genügte, um zum Kreis der NN zu gehören. Das Center übernahm die technische Konfiguration, Wartung und die rechtzeitige automatische Ladung.

Ein Netzwerk, das es der Bevölkerung ermöglicht, an den Gedanken der Mitmenschen teilzuhaben, aber gleichzeitig jede Intimität unterbindet. Diese Möglichkeit macht es der Kommissarin im Roman leicht, schnell zu klären, ob Adam Ox schuld war am Tod seiner Exfreundin.

Das Neuronetz war funktionell in der Lage, sämtliche Aktivmuster des Hirns abzubilden. Jedem Buchstaben, jeder Silbe, sämtlichen gedachten oder ausgesprochenen Wörtern und Äußerungen entsprachen spezifische Aktivmuster des Gehirns. Im Neurocenter wurden alle registrierten Hirnmuster gesammelt und archiviert.

In dieser Welt gibt es im Roman von Koese nur noch wenige, die ihre Privatsphäre wahren und sich nicht dem Netzwerk anschließen.

Illustration von Stefan Ambs, die passend zu unserer Reihe angefertigt wurde
Illustration von Stefan Ambs

Die Fraktion der Abtrünnigen wird dabei als Lügner abgestempelt, als die Gruppe, die etwas zu verheimlichen hat und somit an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Die Kommissarin Domna Chacal scheint das Netz aber nicht nur aufgrund beruflicher Vorteile positiv zu sehen.

Es rührte Chacal, wenn sie daran dachte, dass das Netz für eine gewisse Gleichheit unter den Menschen sorgte. Es nahm keine Rücksicht auf soziale Stellung, Grad der Bildung oder Dicke des Portemonnaies.

Aber wie funktioniert diese Erfindung? Wie gelingt es den Menschen in dieser Fantasiewelt, ihre Gedanken mit anderen zu teilen? Tizia Koese beschreibt es folgendermaßen:

Die Neurotechnik war nicht mehr und nicht weniger als eine 1:1-Abbildung dessen, was im Hirn gedanklich vorging. Die Datenübertragung lief mit einer Verzögerung von nur einer Sekunde in Echtzeit ab. Dies geschah durch funktionstüchtige Algorithmen, die mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 99,99 Prozent Treffer landeten in der Form, wie der fleißig fabulierende Gesprächspartner es intendierte. Der Funktionsweise des Neuronetzes lagen nicht nur Algorithmen zugrunde, sie fußte darüber hinaus auf das, was an neuesten Erkenntnissen über elektromagnetische Impulse und variierende Spannungsverhältnisse des Hirns vorlag und schloss auch komplexe chemisch-physikalische Prozesse ein, die im Inneren der milliardenfach vorhandenen, synaptisch miteinander verknüpften Nervenzellen abliefen.

Anhand metaphorischer Beschreibungen eröffnet Tizia Koese ihren Lesern eine neue Welt. Eine Welt, die unsere Fantasie an ihre Grenzen stoßen lässt.

Es war, als würden Bagger das Hirn wie eine Kammer des Schweigens durchbrechen und mit ihren stählernen Greifarmen im Grunde ausgraben, was an fertigen oder unfertigen Gedanken brachlag. Die Bagger brachten meist die Rohfassung zutage, Material, das noch nicht gefiltert oder sonst wie weiterverarbeitet worden war. Die Baggerfahrer kümmerten sich nicht um die Inhalte, die sie nach außen beförderten. »Wir haben den Befehl bekommen und führen ihn nur aus. Alles, was darüber hinausgeht, müssen die Verantwortlichen beurteilen. Wir sind schon genug damit beschäftigt, unsere Arbeitsbedingungen zu verbessern«, klagten sie und führten blind ihre Arbeit aus.

Als Leser taucht man in dem Buch Koeses ein in eine Welt, die man sich vielleicht schon oft herbeigewünscht hat und jetzt zum ersten Mal die Auswirkungen dessen betrachten kann. Das erst Kapitel schließt jedenfalls mit einer Aussage ab, die zum Nachdenken anregt.

Wer log, wurde gleich ertappt, und das würde, so wurde geglaubt und gehofft, die Menschen dazu erziehen, ehrlicher miteinander umzugehen. Man wusste, woran man war, und Singles nutzten das Neuronetz intensiv bei ihrer Partnersuche. Eine Entwicklung, die seltsamerweise zu so vielen Singles wie nie zuvor geführt hatte.

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