Schlechte Noten für unser Schulsystem

Quirin, Adrian, Anna-Lena und Franziska. Vier ganz normale Neunjährige. Alle besuchen die dritte Klasse der Rottacher Grundschule. Meistens gehen sie gern zur Schule. Die Noten sind gut. Doch das war den vieren bisher nicht so wichtig. Bisher. Denn “ab jetzt wird es “langsam ernst.“ Dessen sind sich viele Eltern und Lehrer sicher. Und das liegt am bayerischen Schulsystem.

Seit die Realschulen mit der 5. Klasse beginnen, stehen die Viertklässler offenbar unter hohem Druck. Denn hier trennen sich ihre Wege. Und – so fürchten es die meisten Eltern – auch die Wege zum Lebensglück. Das Gymnasium scheint für manche so etwas wie ein Freifahrtschein zu einem gut bezahlten Beruf zu sein. So lange die Kinder noch klein sind, steht die Schule nicht im Fokus des Familienlebens. „Doch irgendwann kommt der Zeitpunkt, da verselbständigt sich das,“ weiß Karl Müller, Rektor der Grund- und Mittelschule Rottach-Egern.

Ein möglichst hoher Abschluss als Ziel

Zu Anfang der vierten Klasse beginnen offenbar auch Eltern, die sich bisher nicht vom Leistungsdruck an den Regelschulen beeindrucken ließen, damit die Einzelnoten ihrer Kinder in den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht zu kontrollieren. Franziska hatte neulich einen Vierer in Mathematik nach Hause gebracht. Nicht weil sie nichts wusste, sondern weil sie einfach vergessen hatte, das letzte Blatt auszufüllen. Ihre Mutter war äußerlich gelassen. „Nächstes Jahr sollte das möglichst nicht mehr passieren,“ hatte sie sich wohl gedacht.

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Manche Eltern haben das Ziel fest im Blick, einen möglichst hohen Abschluss für ihr Kind zu erreichen. Und grundsätzlich ist auch nichts verkehrt daran, das Kind aufs Gymnasium oder auf die Realschule bringen zu wollen. „Solange man auch die Fähigkeiten des Kindes nicht aus den Augen verliert,“ bekräftigt Rektor Müller. Nicht jeder ist für eine akademische Laufbahn geeignet. Und das Handwerk hat schließlich auch eine Zukunft.

Gruppenarbeit in der Grundschule in Rottach-Egern.

Es kommt auf den Weg an, der zum Abschluss führt. Die meisten Schüler merken schon Ende der 3. Klasse, dass jetzt etwas „anders wird“. Viele meistern das darauffolgende Entscheidungsjahr und das Übertrittszeugnis. Schließlich sind Viertklässler schon zehn Jahre alt und zahlreiche unter ihnen auch sehr leistungsbereit und leistungsfähig. Ein selbstbewusster Schüler – egal mit welchem Intelligenzquotienten – wird seinen Weg gehen.

Die eher unsicheren oder leistungsschwächeren Kinder – das dürften je nach Klasse fast die Hälfte der Kinder sein, so die Einschätzung einer erfahrenen Lehrerin – spüren dagegen, dass bei ihnen „etwas nicht stimmt“. Dass ihr Können nicht ausreicht. Für was auch immer. Denn Schullaufbahn und Karriere sind für einen Zehnjährigen immer noch sehr abstrakte Begriffe.

Genug gelernt für eine gesicherte Zukunft?

Ein regelrechter Probenfahrplan hat sich in der 4. Klasse eingebürgert. Die Schüler sollen „genug lernen können“, um den geforderten Notenschnitt zu erreichen. Mit den Möglichkeiten steigen eben Anspruch und Druck, auch auf die Lehrkräfte. Denn wenn der Notendurchschnitt nicht gut genug ist, werden die Eltern schnell unentspannt. Manche fordern gute Noten für das eigene Kind auch vehement und persönlich ein.

Mit dem Notendurchschnitt des Übertrittszeugnisses wird dann mehr oder weniger über die weiterführende Schule entschieden. Und dort geht der Leistungsdruck in eine neue Runde. Dass „Arbeitstage“ von 12-Jährigen inklusive Hausaufgaben und Lernen bis 18 Uhr gehen ist keine Seltenheit. Doch wo soll Franziska da noch ihren Gitarrenunterricht unterbringen?

Wie viele unter den Gymnasiasten und Realschülern tun sich eigentlich beim Lernen schwer? Kommen nur mit Mühe mit? Schneiden bei Prüfungen schlecht ab? Werden zur Nachhilfe geschleift? Landen sie womöglich am Ende ein paar Jahre später an der Haupt- beziehungsweise Mittelschule?

Hauptsache probiert – doch was hat man dabei riskiert? „Die Rückläufer kommen meist erst in der Achten oder Neunten,“ bedauert Müller. Vorher wird alles versucht, das Kind durch die höhere Laufbahn zu bringen.

Das Image der Mittelschule ist ein Problem

Was also tun? Viel werde versucht, um das Image der Mittelschulen zu stärken, beteuert der Rektor. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Zwar achten die meisten Eltern die Versuche, würden sich dann aber doch dafür entscheiden es mit der höheren Schule zu probieren. Manche sehen das Glück in den Gesamtschulen, bei denen alle Schüler an einer Schule sind und später nach Leistungsgruppen getrennt werden.

Und auch andere Ideen stehen im Raum: Wieder die Realschule ab der 6. Klasse einführen oder das Übertrittszeugnis abschaffen. Zusätzlich noch alle Schüler „unter einen Hut bringen“ – mit der Inklusion – auch benachteiligter und lernschwacher Kinder. Ist das Schulsystem mit all diesen Fragen überfordert?

SPD und Grüne sind sich einig: Der Freistaat braucht dringend eine schulpolitische Reform. Dessen ist sich der Bildungssprecher der SPD-Landtagsfraktion, Hans-Ulrich Pfaffmann, sicher. CSU und FDP hätten den Leistungsdruck auf die Schüler deutlich erhöht. Dies hätte zu noch mehr Nachhilfebedarf geführt und somit die Bildungsungerechtigkeit deutlich verstärkt. Der SPD-Bildungssprecher verweist auf einen SPD-Gesetzesentwurf für eine Gemeinschaftsschule, der entsprechende Möglichkeiten für eine Schulreform biete.

Der Schulalltag wird immer komplexer

Schulnoten allein seien jedenfalls keine haltbare Grundlage für Schullaufbahnentscheidungen. Darauf weist die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hin. Seit Jahrzehnten ist bekannt und wissenschaftlich belegt, dass Noten mit Urteils- und Messfehlern behaftet sind. Beispielsweise wurde bereits in den 70-er Jahren nachgewiesen, dass die Erwartungshaltung von Lehrkräften die Leistung von Schülern beeinflusse. Schätzt ein Lehrer einen Schüler als „schwach“ ein, hat dieser es auch faktisch schwerer, gute Leistungen zu erbringen, als ein Mitschüler, der als leistungsfähig eingeschätzt werde.

Die PISA-Studien hätten zudem nachgewiesen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien und aus dem Migrationsumfeld tendenziell schlechter benotet werden, als Kinder aus sogenannten bildungsnahen Familien.

Wie geht es also weiter? Im Schulalltag wird es in jeder Klasse wohl immer komplexer: Verschiedene Jahrgangsstufen zusammen, zunehmend unterschiedliche Leistungsniveaus, teilweise mit geistig behinderten Kindern, zum Teil zwei Lehrkräfte zur gleichen Zeit – und die wohl höchste Leistungsanforderung, die wir je hatten. Und dabei bedeutet höhere Lernflexibilität auch mehr Bürokratie. Denn wenn jeder Schüler einen eigenen Förderplan hat – was jetzt teilweise schon Realität ist – muss das ja auch individuell kontrolliert und ausgearbeitet werden. “Gemeinsames Lernen” steht da wohl nur noch „pro forma“ als Überschrift darüber.

“Wohin sie gehören”

Laut Gele Neubäcker, der Vorsitzenden der GEW Bayern ist eines klar: „Für Kinder und Eltern ist es ein beschämendes Gefühl, schwarz auf weiß lesen zu müssen, dass sie zu den 30 Prozent der “Aussortierten” gehören, die „nur“ für die Hauptschule geeignet sind.“ Weitere 30 Prozent werden die Wahl zwischen Real- und Hauptschule haben, und 40 Prozent werden sich für das Gymnasium entscheiden, auch wenn ihnen alle drei Schularten offen stehen.

Wenn sich an dieser Zuordnungspraxis nichts ändert, werden die bayerischen Kinder bald die einzigen sein, die zum Ende der Grundschulzeit verbindlich in drei Schubladen sortiert werden. Die übrigen Bundesländer gehen bereits andere Wege.

So werden es in der ersten Maiwoche alle Viertklässler wieder schriftlich in der Hand haben – das Übertrittszeugnis. Und es wird zeigen, „wohin sie gehören“ – wenn es nach unserem, dem bayerischen Schulsystem geht.

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