Sehnsucht nach Normalität

Wenn Jugendliche, teils mit Problemhintergrund, Menschen mit Behinderung begegnen, ergibt das eine spannende Mischung: Zwei Welten treffen aufeinander. Wie gut diese sich ergänzen können, zeigt das Kaffee-Projekt „Hand in Hand“: Einmal im Monat veranstalten junge Menschen in der Regens-Wagner-Stiftung in Erlkam einen Nachmittag mit Kaffee und Kuchen – mit Erfolg.

Einfach mal normal sein: Das Kaffee-Projekt vom Verein Vorbild Jugendlicher / Leitbild Mensch bringt Schwung in die Regens-Wagner-Stiftung.
Einfach mal normal sein: Das Kaffee-Projekt bringt Schwung in die Regens-Wagner-Stiftung.

Fast verträumt liegt die Regens-Wagner-Stiftung in Erlkam. Ganz nahe bei Holzkirchen und doch fernab des örtlichen Trubels stehen dort mehrere Häuser, in denen Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung betreut leben. Es ist eine Siedlung im Grünen, sie ist friedlich. Anders gesagt: Es könnte auch mehr los sein. Das finden zumindest die Heilerziehungspflegerin Melanie Schnee und die Erzieherin Chrissi Hilpert.

„Die Gruppen kommen untereinander wenig zusammen“, sagt Schnee. „Einfach mal schnell in den Ort fahren gibt es bei uns nicht“, sagt Hilpert. Jeder Ausflug sei mit großem Mehraufwand verbunden, es dauere eine halbe Stunde, bis alle im Bus seien und losfahren könnten.

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Warum also nicht einfach mal das Prinzip umkehren? Nicht die Bewohner in den Ort, sondern den Ort zu den Bewohnern bringen? Hilpert sagt:

Wir sehnen uns nach Normalität.

„Wer Lust auf einen Kaffee hat, der geht ins Café. Das wünschen wir uns hier auch.“ Ein erster Schritt in Richtung Wunscherfüllung ist nun getan: Eine Jugendgruppe des Vereins Vorbild Jugendlicher / Leitbild Mensch hat das Kaffee-Projekt „Hand in Hand“ gestartet. Die Idee: Einmal im Monat kommen Jugendliche in die Regens-Wagner-Stiftung und veranstalten dort einen Nachmittag mit Kaffee und Kuchen, eine Art Kiosk.

Das Projekt kommt bei den Bewohnern gut an.
Das Projekt kommt bei den Bewohnern gut an.

Für die Initiatoren ist klar, dass sie hier zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Schnee erklärt den Mehrwert für die Bewohner und die Jugendlichen: „Es gibt an diesem Nachmittag viel mehr Bewegung untereinander auf dem Gelände. Die Jugendlichen bringen Dynamik rein und sie sehen, was es heißt, behindert zu sein.“ Dieser Perspektivenwechsel sei wichtig, so die Initiatoren. Peter Unterholzner, Vorstand des Vereins, erklärt:

Viele Jugendliche denken, sie haben Probleme. Wenn sie hierherkommen, erkennen sie, wie gut es ihnen geht.

Auch Hilpert betont, dass die Begegnung bei Jugendlichen etwas bewegen könne. Diese würden erkennen, dass man auch mit weniger zufrieden sein könne und Gesundheit das Wichtigste sei. „An die Gesundheit denken die jungen Leute sonst ja nicht so“, sagt Unterholzner. Sie erscheint als selbstverständlich.

Bewusstsein für einander schaffen

Der Austausch mit den geistig oder körperlich Behinderten lässt die Jugendlichen, die oft selbst einen Problemhintergrund mitbringen, jedoch die Prioritäten neu setzen. „Jetzt merke ich eigentlich erst, wie froh ich sein kann, dass ich selbst nicht behindert bin“, sagt der 16-jährige Fabi.

Die Thematik ist auch in die wöchentliche Gesprächsrunde des Vereins eingeflossen. Man habe gemerkt, wie sehr das Thema die jungen Menschen bewege, so Unterholzner. Die eigenen als so mächtig empfundenen Probleme schwinden vor dem Bewusstsein, dass es Menschen gibt, die größere Schicksalsschläge zu bewältigen haben.

Nina Muhovic und Chrissi Hilpert bei der Kuchenausgabe.
Nina Muhovic und Chrissi Hilpert bei der Kuchenausgabe.

Und wie sieht es aus mit den Berührungsängsten? Nina Muhovic, die das Projekt leitet, erzählt von ihrer persönlichen ersten Begegnung mit Behinderten. „Früher hatte ich Ängste vor Menschen mit Handicap, vor allem, wenn sie nicht sprechen konnten.“ Während ihres freiwilligen sozialen Jahres in Regensburg habe ihr ein zwölfjähriges Mädchen die Angst genommen: „Das Mädchen konnte sprechen und hat mir viel erklärt. Sie hat mir geholfen, die Perspektive zu wechseln und mich selbst in diese Lage zu versetzen.“

Hemmungen abbauen, Scheu überwinden

Der Perspektivwechsel gelingt den Jugendlichen gut. „Das erste Mal war aufregend“, erinnert sich Schnee. „Da war wirklich was los. Es kommt was rüber.“ Die Jugendlichen zeigten wenig Scheu, so Hilpert. Die Mitbewohner freuten sich einfach. Und Unterholzner weist nochmals auf den pädagogischen Gewinn des Projektes hin:

Statt rumzuhängen machen die Jugendlichen etwas Sinnvolles. Und man darf nicht vergessen: Sie opfern ihren gesamten Sonntagnachmittag dafür.

Geht es nach Muhovic, Schnee, Hilpert und Unterholzner ist das Ganze erst der Anfang. „Unser Zukunftsziel ist, dass Jugendliche aus der Jugendgruppe irgendwann zu Begleitpersonen werden und auch zu Ausflügen mitkommen“, sagt Unterholzner. Oder dass es doch – wie Schnee es sich wünscht, einen Kiosk oder Biergarten gibt, der Erlkam aus seinem Dornröschenschlaf weckt.

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