Stress für die Grundschüler der vierten Klassen: Die Übertrittszeugnisse stehen an. Ein wichtiger Schritt für die Kleinen, die im Durchschnitt zehn Jahre alt sind. Und ein Grund, ihnen auf dem Weg in die Zukunft behilflich zu sein. Deshalb findet am 3. April um 20 Uhr im Seeforum in Rottach-Egern eine Veranstaltung statt, die insbesondere für die Mittelschule werben soll: “Die Mittelschule – mit Vollgas in die berufliche Karriere”.
Wir sprachen mit Wirtschaftsministerin und Schirmherrin der Initiative Ilse Aigner (CSU), Landrat Wolfgang Rzehak (Die Grünen) und Schulamtsdirektor Peter Huber über den Schulwechsel, die Bedeutung der Mittelschule, und welche Fächer bei ihnen beliebt waren. In einem waren sich alle drei einig: „Eltern, übt keinen Druck aus“.
Tegernseer Stimme: Der Schulwechsel für die Viertklässler steht an. Wie war das bei Ihnen? Welche Schule haben Sie nach der Grundschule besucht?
Ilse Aigner: Zunächst das Gymnasium. Meine Noten waren sehr gut. Trotzdem bin ich nach der 6. Klasse auf die Realschule gewechselt. Für mich stand damals schon fest, dass ich eine Lehre machen und dann in den elterlichen Betrieb einsteigen will. Die Praxis hat mir mehr Spaß gemacht als die Theorie.
Wolfgang Rzehak: Ich war auf dem Gymnasium Miesbach. Allerdings bin ich in der Probezeit durchgefallen, sodass ich das restliche Schuljahr an der Hauptschule in Miesbach verbracht habe. Ab der 5. Klasse durfte ich es noch einmal versuchen und machte am Gymnasium Tegernsee weiter.
Peter Huber: Nach der 4. Klasse wechselte ich auf das humanistische Gymnasium. Mit der Sprachenfolge Latein, Englisch und Griechisch.
Waren Sie zufrieden mit Ihrer Wahl, oder hätten Sie lieber eine andere Schule besucht?
Aigner: Ich bin zufrieden. Es war alles gut so wie es lief. Ich hatte eine unglaublich tolle Zeit auf der Realschule und habe sehr viel fürs Leben gelernt. Und nebenbei bemerkt: Wenn man schon 13 Jahre im Berufsleben steht, bevor man wie ich mit 29 in die Politik wechselt, dann ist das ein Erfahrungsschatz, der mir oft geholfen hat.
Rzehak: Damals war alles sehr strikt. Wer welche Schule besuchen durfte, hing von den Gesellschaftsschichten ab. Der Sohn des Apothekers, der Sohn des Bankdirektors und der Sohn des Unternehmers gingen auf das Gymnasium. Die Kinder der Mittelschicht auf die Real-oder Wirtschaftsschule. Arbeiter- und Bauernkinder besuchten die Hauptschule. Der damalige Direktor in Miesbach sagte zu meinem Vater: „Ihr Sohn ist nicht bildungsfähig!“ Dabei war ich einfach noch nicht reif fürs Gymnasium. Ich war viel zu kindlich und verspielt. Gott sei Dank hat mein Vater nicht auf ihn gehört und schickte mich aufs Gymnasium in Tegernsee. Allerdings machte er mir auch klar, dass damit der Ernst des Lebens beginnt und ich nun ernsthaft lernen müsste. 1989 habe ich dann Abitur gemacht.
Huber: Rückblickend war das humanistische Gymnasium für mich die beste Wahl, und auch meine Wunsch-Schule.
Haben Sie damals viel Druck von Ihren Eltern bekommen?
Aigner: Meine Eltern übten keinerlei Druck auf mich aus. Für sie war es auch keine Prestige-Frage.
Rzehak: Druck? So würde ich es nicht beschreiben. Bildung hatte in meiner Familie immer schon einen sehr hohen Stellenwert, weil wir nicht viel besaßen. Meine Familie wurde vertrieben und hatte alles verloren. Wir mussten uns alles wieder erarbeiten – dafür ist Bildung unerlässlich.
Huber: Ich hatte keinen Druck von meinen Eltern.
Ein Schulübertritt ist eine wichtige Entscheidung, quasi eine Weichenstellung fürs Leben. Sind 10-Jährige nicht damit überfordert? In anderen Bundesländern wird erst zwei Jahre später gewechselt…
Aigner: Das Bayerische Schulsystem ist eines der durchlässigsten und flexibelsten Schulsysteme überhaupt. Es gibt keinen Abschluss ohne Anschluss. Der Weg ist von der Mittelschule/Realschule über die Berufs- oder Fachoberschule (BOS/FOS), oder von der Lehre bis zum Studium möglich. Man kann sich auch nach der Lehre auf seinem beruflichen Weg weiterbilden. Bei mir war es beispielsweise die zweijährige Technikerschule, die ich nach der Lehre zur Radio- und Fernsehtechnikerin besucht habe. Das ist durchaus mit einem Bachelor vergleichbar.
Rzehak: Es wird oft gesagt, dass der Übertritt in Bayern zu früh erfolgt, und sowohl Kinder als auch Eltern unnötig unter Stress setzt. Aber zum einen ist die Hauptschule sicherlich keine „schlechte“ Schulart, zum anderen sind die Weichen ja noch nicht endgültig gestellt, wenn man seine Bildungskarriere als Kind an der Mittelschule beginnt. Später kann man immer noch auf eine andere Schule wechseln und sogar das Abitur machen. Manche Kinder sind Spätzünder, entwickeln sich erst später. Das sollten Eltern berücksichtigen, bevor sie Druck ausüben und ihre Kinder überfordern.
Huber: Ich empfand den Schulwechsel als nicht zu früh. Ich wollte unbedingt auf dieselbe Schule wie mein älterer Bruder gehen. Wenn bei einem 10-Jährigen der für ihn beste Schulweg noch nicht feststeht, sollte er nicht gezwungenermaßen über das Gymnasium oder die Realschule gehen. Auch wenn letztlich die Hochschulreife das Ziel ist – es gibt andere Wege, die dahin führen.
Die Hauptschule heißt jetzt Mittelschule. Wollte man mit der Namensänderung das Image einer Schule verbessern, die bis dato den Ruf eines “Auffangbeckens” hatte?
Aigner: Ich sehe die Mittelschule keineswegs als Auffangbecken. Und ich finde diesen Ausdruck auch vollkommen unangemessen. Bei manchen Schülerinnen und Schülern dauert es einfach ein wenig länger bis der Ehrgeiz kommt. Manche sind eher die Praktiker, die schnell einen Beruf erlernen wollen. Und der Bedarf an Praktikern und Handwerkern ist ja auf jeden Fall da. Leider wird die gesellschaftliche Wahrnehmung der Schule oft nicht gerecht.
Rzehak: Bei der Änderung von der Hauptschule zur Mittelschule wurde ja nicht nur das Türschild abgeschraubt, sondern es gab auch inhaltliche Änderungen und Neukonzipierungen. Grundsätzlich ist die Mittelschule erst einmal nicht „besser“ oder „schlechter“ als andere Schularten. Sie hat nur ein anderes Profil, nämlich ein besonders praxisorientiertes. Die Lehrkräfte dort haben einen sehr guten Kontakt zu den örtlichen Unternehmen und wissen, wer zu wem passt. Die Mittelschulen bilden wie keine andere Schulart für den Bedarf von Handwerk und Mittelstand aus. Auch im Handwerk kann man gutes Geld verdienen und ein sinnvolles und zufriedenes Leben führen. Also ganz klar: Bei uns hier auf dem Land, im Landkreis Miesbach, ist die Mittelschule auf keinen Fall ein „Auffangbecken“, sondern eine tolle Schulform mit engagierten und kundigen Schulleitungen, Lehrkräften und guten Schülerinnen und Schülern.
Huber: Dass die Mittelschule den Ruf eines Auffangbeckens hat, kann ich so, gerade in unserem ländlichen Raum, nicht feststellen. Unsere Mittelschulen leisten hervorragende Arbeit und ihre Absolventen sind, gerade auch bei den Handwerksbetrieben der Region, begehrte Kandidaten für Ausbildungsplätze. Das werden Ihnen viele Handwerksmeister bestätigen.
Obwohl zwar später die Möglichkeit des Schulwechsels besteht, weiß man doch, dass jeder Wechsel schwierig ist. Neue Lehrer, neue Räume, der Verlust alter Freunde. Wie erleichtern Sie jungen Menschen den Wechsel?
Aigner: Hier muss ein Austausch zwischen den Schulen stattfinden. Da mache ich mir aber bei unseren Schulen im Landkreis keine Sorgen. Übrigens ist ein Wechsel vom Gymnasium zurück auf die Realschule oder Mittelschule für diejenigen, die es nicht schaffen, mindestens genauso schwierig.
Rzehak: Das Problem besteht. Allerdings wissen die Schulleitungen und die Lehrer darum. Gerade für Kinder und Jugendliche sind Veränderungen oft schwer. Sie müssen den Wechsel von der behüteten Kinderzeit an der Grundschule – mit nur einer Lehrerin für alle Fächer – hin zur weiterführenden Schule bewältigen. Aber auch die jungen Menschen müssen aufgeschlossen sein. Mit Hilfe der Großeltern, der Eltern, der Freunde, der Lehrer wird der Wechsel schon klappen. Dann kann Veränderung eine Chance sein.
Huber: Ein wichtiges Kennzeichen unseres Schulsystems ist seine Durchlässigkeit. Es gilt der Grundsatz: “Kein Abschluss ohne Anschluss”. Was viele Eltern nicht wissen ist, dass derzeit schon weit über 40 Prozent der Jugendlichen ihre Hochschulreife über eine betriebliche Ausbildung und weiter über das berufliche Schulwesen erwerben. Der Weg zur Uni kann also über das Gymnasium und die Realschule führen, muss aber nicht. Wenn Schüler sich doch für diesen Weg entscheiden, werden sie sowohl im Gymnasium als auch in der Realschule von Grundschullehrkräften unterstützt. Diese stellen wir den Schulen als sogenannte Lotsen zur Verfügung.
Wie stehen Sie zum Konzept der Gesamtschulen beziehungsweise Ganztagsschulen?
Aigner: In Bayern gibt es noch fünf Gesamtschulen, die als Schulen besonderer Art gelten. Ich persönlich bin für eine individuelle Förderung von Kindern und denke, dass dies in den vorhandenen Schulformen in Bayern sehr gut praktiziert wird. Außerdem sehe ich bei einer generellen Gesamtschule die Gefahr, dass der Geldbeutel der Eltern und nicht das individuelle Können der Kinder entscheidet. Diejenigen, die eine Gesamtschule ablehnen, und die es sich leisten können, würden ihre Kinder dann vermutlich auf eine Privatschule wechseln lassen. Und das ist nicht sozial.
Rzehak: Diese Diskussion sollte man nicht ideologisch führen. Die Gesamtschule ist auch kein Allheilmittel. Natürlich wäre es möglicherweise wünschenswert, die Kinder noch etwas länger zusammen zu unterrichten. Etwa noch in einer gemeinsamen fünften und sechsten Jahrgangsstufe. Andererseits sind manche Kinder gegen Ende der Grundschule schon wirklich so weit, dass ihnen mehr Herausforderungen gut tun. Schädlich sind auf jeden Fall weitere Strukturdiskussionen auf dem Rücken der Kinder und der Eltern. Dies sieht man an der unsäglichen und scheinbar endlosen Diskussion nach dem schlampig und überhastet eingeführten G8. Darunter leiden Kinder und Eltern heute noch. Daher sollte man weitere Verunsicherungen vermeiden und die bestehenden Schularten im System pragmatisch verbessern. Dafür kann der Freistaat Bayern auch gerne Geld in die Hand nehmen – für mehr Lehrkräfte, kleinere Klassen, bessere individuelle Förderung. Die Durchlässigkeit des bestehenden Schulsystems sollte auf jeden Fall weiter bestehen bleiben, wenn nicht sogar noch erhöht werden.
Huber: Ganztagsangebote leisten gerade in der heutigen Zeit einen enorm wichtigen Beitrag zu Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Oft sind nämlich beide Elternteile berufstätig. Gesamtschulen gehören allerdings nicht zum Kernbereich des bayerischen Bildungsangebots.
Was wünschen Sie sich für die Schulen im Landkreis?
Aigner: Das jede einzelne Schulform auch weiterhin fortbestehen kann, die Schulen einen guten Austausch pflegen, und die Schülerinnen und Schüler weiterhin die Wahlfreiheit haben.
Rzehak: Der Landkreis Miesbach hat sehr viel Geld in Schulen investiert. Unsere Schulen stehen gut da, sind zeitgemäß und modern. Dieses Geld haben wir gerne angelegt, weil die Kinder unser wichtigstes Gut und unser kostbarster Rohstoff sind. Daher wünsche ich mir, dass die Schulfamilien an allen Schulen im Landkreis weiterhin so gut und erfolgreich arbeiten.
Huber: Immer genügend Lehrkräfte!
Was raten Sie Eltern, deren Kinder jetzt vor dem Schulwechsel stehen?
Aigner: Üben Sie bitte nicht einen allzu großen Druck auf Ihre Kinder aus, sondern beraten Sie sich mit den Lehrkräften, was das Beste für Ihre Kinder ist.
Rzehak: Jede Schulart hat ein bestimmtes Profil. Natürlich werden sich die Eltern ausführlich darüber informieren. Vertrauen Sie auf die Empfehlung der Grundschullehrerin, diese kennt ihr Kind gut. Übertriebener Ehrgeiz schadet nur, überfordern Sie Ihr Kind nicht. Es gibt später immer noch Möglichkeiten, einen anderen Weg zu gehen.
Huber: Auf keinen Fall Druck ausüben und die Kinder in der neuen Schule gut begleiten. Das kostet Zeit und ist nicht nur Sache der Schulen!
Vielen Dank für das Gespräch.
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