Verkehrsstau versus Gefühlsstau

Die WM geht los, die Welt steht still, der Ball ist rund, die Hölle ist los – besonders für Männer bedeutet die Fußball-WM emotionaler Ausnahmezustand, gewissermaßen die Lizenz zum Überschnappen.

Überall geht was – nur in und um Holzkirchen nicht. Kaum eine Bar bietet Public Viewing an. Tragisch? Schlimm? Zum Weinen? Nicht doch. Der Verkehrsknotenpunkt könnte das Sportevent ja anderweitig zelebrieren.

Schön kuschlig, dieses public viewing - wie hier im Olympiapark in München beim Eröffnungsspiel der Fußball-WM 2006. Bild: Wikipedia.de
Schön kuschlig, dieses Public Viewing – wie hier im Olympiapark in München beim Eröffnungsspiel der Fußball-WM 2006 / Bild: Wikipedia.de

Ein Kommentar von Daniela Otto:
Weil der postmoderne Mensch das Alleinsein verlernt hat und nicht einmal mehr Sportereignisse in Einsamkeit vor dem Fernseher verkraften kann, hat er das Public Viewing erfunden. Ein stehender Ausdruck, der Synonym für kollektives Starren auf eine Großleinwand geworden ist, auf der 22 Fußballspieler einem Ball hinterherjagen.

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Wer das Phänomen Fußball verstehen will, muss tief in der zur Ratio verdammten Seele des zeitgenössischen Individuums schürfen. Denn die primär (aber längst nicht mehr nur) männliche Leidenschaft für Fußball erklärt sich durch die Möglichkeit, dem ewigen Vernunftdiktat abzuschwören und Emotionen zu zeigen. Nein, nicht nur zu zeigen, sondern herauszubrüllen. Gerade für Männer birgt das geradezu ein Erlösungsversprechen.

Die Wiederkehr des Verdrängten

Ja, der stereotypische Mann, der sich mit dem Gefühl sonst eher schwer tut, kann hier einmal alles Verdrängte hervorholen. Und schaut man sich während solcher sportlicher Großereignisse um, sieht man in die schmerzverzerrten Gesichter, wenn ein Tor des Gegners fällt, sieht den Jubel, wenn die eigene Mannschaft siegt, so kommt man um den Schluss nicht herum, dass sich hier vieles angestaut hat.

Zudem werden beim public viewing noch weitere Urtriebe geweckt: Der Mensch ist ein Herdentier. Mehr Herde als hier geht kaum. Vor allem Großstädte machen sich diese Sehnsucht nach der Teilhabe am Meutendasein zunutze. Kaum eine Bar, in der keine Leinwand aufgestellt ist – immerhin lassen sich damit ja auch noch ganz nebenbei die diversen kulinarischen WM-Spezialitäten wie Brazil-Cocktails besser verkaufen.

Doch was ist in und um Holzkirchen los? Wie das Ordnungsamt der Gemeinde Holzkirchen mitteilt, gab es keine Anfrage in Bezug auf eine Genehmigung für public viewing. Auch Lokalitäten wie das Papst, der Baumann in Otterfing oder die Gotzinger Trommel in Weyarn winken müde ab. „Bei den Jugendlichen sind große Dinger gefragt“, sagt Ludwig Klier, Besitzer des Gasthofs Baumann. Seine Kinder führen zu den Großevents nach München.

Warum ein Stau zur WM auch sein Gutes hat

Wenn man mit der Leopoldstraße sowieso nicht mithalten kann, kann man es auch gleich sein lassen, so scheint die allgemeine Stimmung der Barbetreiber zu sein. Dass der WM-Spuk ganz am Nordlandkreis vorbei geht, ist dennoch fraglich. Immerhin, die Verkaufsstrategen haben sich ja noch die lustigen Fähnchen ausgedacht, die man an die Autos stecken kann. Und jeder weiß, in Holzkirchen gibt es so viel Verkehr, dass immer mal wieder eine Umgehungsstraße vonnöten ist.

Warum sich also zur Abwechslung nicht also einmal über den innerörtlichen Stau freuen? Wenn man seine Fußball-Emotion schon nicht beim Public Viewing herauslassen kann, dann ja vielleicht beim Hupkonzert. Der lautstarke Verkehrsstau könnte ja den Gefühlsstau lösen. Welch grandiose Aussichten also. In diesem Sinne: Tröt. Tröt. Mögen die Spiele beginnen.

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