„Nimm den besten Orgasmus, den du je hattest. Multiplizier ihn mal tausend und du bist noch nicht mal nah dran.“ Der Beginn von Danny Boyles Film Trainspotting ist legendär. Hauptfigur Mark Renton (Ewan McGregor) ist heroinabhängig. Mit diesen Worten beschreibt er den Rausch.
Um den Reiz der Droge nachzuvollziehen, muss man ihr Versprechen verstehen: Es ist das Versprechen eines grandiosen Gefühls, das die Sorgen des Alltags und die eigenen Defizite verschwinden lässt. Es ist ein attraktives, aber trügerisches und lebensgefährliches Versprechen. Ein Versprechen, dem nicht nur die Film-Clique im schottischen Edinburgh erliegt. Sondern auch viele Menschen im bayerischen Vorstadtidyll – oft junge Menschen in Holzkirchen.
Denn die Marktgemeinde ist in Sachen Drogenkonsum kein unbeschriebenes Blatt. Im Gegenteil. „Heroin ist überall. Illegale Drogen sind überall“, sagt Karsten Fricke, Sozialpädadoge bei der Suchtberatungsstelle in Holzkirchen. „Auf dem Dorf gibt es nur weniger Drogen, weil es weniger Bevölkerung gibt“, erklärt er weiter. Natürlich gäbe es in Frankfurt eine größere Szene als in Holzkirchen. Aber Sucht sei ein Problem, das den ganzen Globus betreffe.
Die Jagd nach dem großen Gefühl
Zu Frickes Aufgaben zählt die psychosoziale Begleitung während der Subsitution, also der medizinisch kontrollierten Drogenentwöhnung durch den Ersatzstoff Methadon. Im Landkreis Miesbach gibt es etwa 40 substituierte Heroinabhängige.
„Wenige kommen ganz los, bei vielen geht die Substitutionsbehandlung über fünf bis zehn Jahre“, sagt Fricke. Nicht wenige seien schon seit ihrem 13. Lebensjahr drogenabhängig, kämen aber oft erst mit 30 oder noch später zur Suchtberatung. Das Leben der Abhängigen, es ist gezeichnet. Und es ist geprägt vom Wunsch, das Gefühl des ersten Schusses wieder zu spüren: Sie jagen ihm nach.
„Das Gefühl, dass durch den ersten Heroinkonsum ausgelöst wird, ist das geilste der Welt“ – so schildern subsituierte Heroinabhängige Fricke ihre Erfahrung. Dabei ist gerade beim ersten Konsum die Gefahr einer tödlichen Überdosierung sehr hoch. Und der Sozialpädagoge warnt: „Die Droge betrügt einen, der Effekt nimmt ab.“ Süchtige fixen stets dem ersten Mal hinterher und werden doch nur enttäuscht.
“Holzkirchen ist krass”
Weniger sexuell konnotiert, aber dennoch im Superlativmodus schildert auch Özgur Bilge seine Drogenerfahrung: „Stell dir den perfekten Tag vor“, sagt der 36-Jährige. „Du bekommst nur Erfolgsnachrichten: Lob vom Chef. Geld auf das Konto. Du bist sorglos. Dazu machst du noch eine Cardio-Einheit, du gibst Vollgas: Du läufst auf 150 Prozent.“
Bilge weiß, wovon er spricht. Acht Jahre lang hat er Crystal Meth konsumiert, sein „härtester Trip“, wie er selbst sagt. Heute ist er clean. In Holzkirchen kennt sich der Rosenheimer, der als Partner für den in der Marktgemeinde agierenden Verein Vorbild Jugendlicher / Leitbild Mensch, tätig ist, aus. Und er sagt: „Holzkirchen ist krass.“
Obwohl Holzkirchen nicht groß sei, sei die Drogenproblematik für die Einwohnerzahl radikal. Man könne hier, so Bilge, alles bekommen, was man wolle – angefangen bei Marihuana bis hin zu Ecstacy, Crystal, LSD, Heroin. „Das Zeug ist überall“, sagt Bilge.
Crystal – durch Breaking Bad zum “Superstar”
Beinahe keusch klingen hingegen die Aussagen der örtlichen Polizei: Holzkirchen stelle keinen extremen Brennpunkt dar, so die Aussage von Josef Lang. „lllegale Substanzen werden überall umgeschlagen, in Holzkirchen genauso wie anderswo.“
Allerdings räumt Lang ein, dass Holzkirchen mit der Nahtstelle zu München und Rosenheim etwas anfälliger sei. „Es wird allgemein gesagt, dass der Konsum von Crystal Meth mehr geworden ist“, so Lang. „Vieles kommt aus dem Osten.“ Wegen der Nähe zur tschechischen Grenze sei daher Nordbayern auch weitaus stärker von Crystal Meth betroffen als der Süden, wie Stefan Sonntag von der Polizei Rosenheim erläutert.
Crystal Meth hat nicht zuletzt durch die erfolgreiche US-Serie Breaking Bad große Berühmtheit erlangt. Darin steigt ein krebskranker Chemielehrer (Bryan Cranston) zum Drogenboss auf, indem er das beste Crystal weit und breit kocht. Das weiße, wie Kristall ausschauende Methamphetamin wirkt aufputschend: „Damit kannst du das ganze Wochenende durchfeiern“, sagt Bilge. Der Alltag wird zur Nebensache:
Du fühlst dich wie Gott.
Obwohl die Droge bereits im Zweiten Weltkrieg konsumiert wurde, kam die große Welle erst später. Bilge ist 18, als er das erste Mal Crystal konsumiert, es ist das Jahr 1996. Er habe die Anfänge des Crystal-Hypes miterlebt, erzählt er.
Sitzt man Bilge gegenüber, ist es schwer daran zu glauben, dass all die im Netz kursierenden Fotos von Meth-Süchtigen kein reines Photoshop-Produkt sind. Googelt man Bilder zu Crystal, so fühlt man sich automatisch in ein Gruselkabinett versetzt.
Die Drogen hinterlassen Spuren
Kaputte Zähne (der sogenannte ‚Meth-Mund’), entzündete Haut – Süchtige sehen kaputt aus. Bilge hingegen wirkt gesund. Doch er räumt ein: „Dass ich heute hier so sitze ist ein Wunder. Der soziale Abstieg und der körperliche Verfall sind durch den Konsum eigentlich vorprogrammiert.“
Bilge erzählt von mangelnder Hygiene bei Süchtigen – „bei manchen ist die Jeans vorne schon gelb, weil sie sich ständig den Schweiß abwischen“ – kaputten Zähnen und Akne. Auch Heroinsüchtigen sehe man die Sucht an: Substituierte seien motorisch langsam, erklärt Fricke. Viel sähe man in den Augen: Die Pupillen seien so klein wie Stecknadeln (‚Steckis’).
Um derartige Merkmale zu erkennen, muss man genau hinschauen. Dies versucht auch die Polizei, die verstärkt gegen Drogendelikte vorgehen will – wie auch dem letzten Sicherheitsbericht zu entnehmen ist. “Wie erfolgreich ich in der Drogenbekämpfung bin, hängt davon ab, wieviel ich an Personal investiere”, sagt Sonntag. Brennpunkte wie Nordbayern, die Städte entlang der tschechischen Grenze, würde die Polizei ganz besonders unter die Lupe nehmen:
Wir tun hier alles, um den Drogenfluss zu unterbinden.
Laut Sicherheitsbericht sind die Maßnahmen zur Drogenbekämpfung seit 2011 massiv verstärkt worden. Die offizielle, von der Polizei genannte Aufklärungsquote von 97,1 Prozent, gilt es dennoch zu hinterfragen. Wie Sonntag erläutert, läge diese bei Drogendelikten immer nahe der 100 Prozent. Der Grund dafür ist einfach: Rauschgitftdelikte sind immer Kontrolldelikte. Wird jemand kontrolliert und erwischt, gilt der Fall als geklärt. Wer nicht erwischt wird, taucht in der Statistik gar nicht erst auf.
Das Drogenproblem als Jugendproblem
Im Fokus der Tatverdächtigen stehen weiterhin insbesondere Jugendliche und Heranwachsende. Auch in Holzkirchen ist das Drogenproblem oft gleichzeitig ein Jugendproblem.
„Drogen sind im Ort gerade bei Jugendlichen ein großes Thema, gerade was Partys angeht“, bestätigt auch Holzkirchens Streetworker Christian Probst. “Es gibt viele Jugendliche, die nicht ohne Pille nach München zum Feiern fahren.“
Ecstasy sei derzeit in Holzkirchen „unglaublich präsent“, so Probst, der von Holzkirchen als „Brennpunktort“ spricht: „In Holzkirchen kommt viel zusammen: Es gibt hier viele Schulen, es ist nahe an München und Rosenheim. Hier gibt es einfach ein gutes Kontaktnetz.“ Dies bestätigt auch Andreas Pfisterer, Jugendbeauftragter der Polizei Holzkirchen. “Hier ist kein Friede-Freude-Eierkuchenland.”
Skrupellosigkeit in der Marktgemeinde
Bilge spricht von einer gewissen Skrupellosigkeit, die in der Marktgemeinde vorherrscht: „Hier dealen auch 14- und 15-Jährige mit Drogen. Drogen werden von Älteren an Minderjährige verkauft. Das ist ein totales No-Go.“ Bilge moniert fehlenden Anstand: „Man kann Kindern keine Drogen geben. Da fehlt doch jegliches Schamgefühl.“
Im Hinblick auf leichtere Konsummittel wie Alkohol teilt diese Beobachtung auch Pfisterer. Es sei völlig normal, dass 16-Jährige Alkohol kauften und diesen dann an Jüngere übergäben. “Da wird dann lustig verteilt”, so der Polizeibeamte, der diese Einstellung wie Bilge kritisiert. Dabei sind die typischen Treffpunkte unter den Insidern bekannt. Der Tengelmannparkplatz oder die Gegend um das HEP herum sind nur zwei davon.
Holzkirchen bestätigt die These, dass Drogen Mainstream sind. Man muss nicht in den Untergrund, um die Szene zu finden. Sie ist da. Selbst im bayerischen Voralpenland.
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