Im Tegernseer Stadtrat diskutierte man vergangene Woche über vermeintliche Gefahren, wenn Radler auf Fußgänger in der Schwaighofbucht treffen. Der Fall steht exemplarisch für unsere hausgemachte Regelungswut.
Hört man Stadträten in Tegernsee zu, möchte man glauben, die Schwaighofbucht ähnele einer Verkehrskreuzung in Kalkutta. Rasende Radler, in letzter Sekunde weghüpfende Rentner, die sich mit Mühe an ihren Rollatoren halten können, verschreckte Kinder, nur knapp dem Tod entkommen. Dazu: Radler gegen Radler. Fehlt eigentlich nur eine herumliegende Kuh. „Fußgänger haben Vorrang“, steht dort auf Schildern. Aber der Weg ist auch für Radfahrer freigegeben, da sonst die angrenzende Bundesstraße in Anspruch genommen wäre. Das will man auch nicht. Aber Anwohner haben sich in einer Petition beschwert. Gefordert wurden damals verschiedene Varianten: die Verbreiterung der Wege oder eine Begrenzung der Fahrradgeschwindigkeit im Schritttempo oder notfalls sogar ein komplettes Radfahrverbot in der Schwaighofanlage.
Der Bauausschuss der Stadt beschäftigte sich damit, es gab Ortstermine mit den Nachbarn aus Rottach. Und letzte Woche ließ Bürgermeister Johannes Hagn (CSU) in der Runde wieder über vier Alternativen zum Radl-Rage diskutieren: Radfahren verbieten? Den Weg verbreitern? Bauliche Veränderungen, sprich ‘Raser, steig ab vom Rad’, einsetzen oder einfach gar nichts machen? Über diese Möglichkeiten wollte Hagn mit den Kollegen diskutieren. Und prompt purzelten die Vorschläge über den Ratstisch: Schranken, Schwellen und Schilder. Am Ende sollte die Verwaltung Vorschläge zur Verlangsamung des Radlverkehrs erarbeiten, und das Thema wurde auf ‘W’ wie Wiedervorlage gelegt.
Es ist sonderbar. Da demonstrieren Tausende derzeit in Deutschland gegen Bürokratie-Abbau. Aber daheim, in der kleinen Kommune, da will man Regelungen, Verbote und Satzungen für das kleinste Miteinander haben. Die Ideen entspringen selten einem Beamtenkopf. “Sie sind Ausdruck einer Vollkasko-Mentalität der Bürgerschaft, der sich immer wieder in vielfältiger Form bemerkbar macht”, erklärt uns Bürgermeister Johannes Hagn aus Tegernsee. Ein Rentner-Radler aus München fährt in Rottach-Egern verbotenerweise einen Waldweg hinab, stürzt und – verklagt die Gemeinde.
In Baden-Württemberg ertrinkt ein Kind in einem See unter einem Schwimmfloß. Die Mutter verklagt die Gemeinde wegen mangelnder Aufsicht. Sie bekommt Recht. Ergebnis: Auch am Tegernsee ziehen Kommunen wie Bad Wiessee oder Tegernsee ihre Schwimmflöße oder Sprungtürme aus dem Verkehr. Man hat Angst vor Klagen und Versicherungsfällen.
Einfache Regeln des menschlichen Zusammenseins, das Bewusstsein über mögliche Risiken und nicht zuletzt das Akzeptieren von Unglücken – all das verschwindet aus unserem Leben. Wir alle rufen schnell nach dem Staat, wollen verbindliche Regelungen, gern auch für andere. Aber wehe, es betrifft uns selbst. “Es liegt an der Anspruchshaltung der Bürger”, glaubt Hagn. Er habe bei Amtsantritt den Wunsch gehabt, die Zahl der Schilder im Ort zu reduzieren. Es ist ihm nicht gelungen. “Es ist nicht eine spezifische Gruppe, es kommt aus allen Teilen der Gesellschaft”, sagt der Bürgermeister. Und wenn wir schon dabei sind, dann regeln wir auch richtig. Dann wird länglich über die Höhe, in der die Schilder eingesetzt werden, diskutiert. denn auch Kleinwüchsige müssten das Verbotsschild sehen können. Das wird schnell gaga und führt bei Ahndungen durch Ordnungsämtern zu beliebten Ausreden.
Hat jemand noch einen Buchstaben? Kompositum-Krise im Alltag Foto: Redaktionsmunkel
Einerseits wollen wir mehr Regelungen, andererseits sind wir selbst kaum bereit, die bestehenden, ob festgeschrieben oder schlicht durch den gesunden Menschenverstand herleitbaren, Regeln einzuhalten. Wir lassen unsere Hunde auf Wiesen der Bauern koten, wir parken asozial auf Behindertenparkplätzen oder benehmen uns im Straßenverkehr aggressiv und gefährdend.
Interessant wird es, wenn auf Demonstrationen der Staat komplett abgelehnt wird, wenn aber andererseits viele gesellschaftlichen Gruppen oder Organisationen, ständig zusätzliche Leistungen einfordern. Leider lässt sich die Politik weitgehend auf diese Situation ein und erfüllt den Wunsch nach einer Art Erlebnisdemokratie. In abendfüllenden Talkshows beteiligen sich viele Prominente an dieser Wohlfühl-Illusion und treiben die Forderungskataloge weiter voran.
In Tegernsee hat sich kein Stadtrat gegen Schilder und neue Regelungen gewandt, keiner hat an den Menschenverstand appelliert. Warum? Weil Bürger, also Wähler, gern einen “aktiven” Stadtrat haben wollen, einen, der sich um die Ängste der Menschen sorgt, einen der Verbote beschließt? Verbote dieser Art wirken auf bestimmte Gruppen eher handelnd und eben nicht einschränkend. Und meist läuft die Eskalationskette so: Bürger beschwert sich im Supermarkt, beim Waldfest oder im privaten Kreis bei Gemeinderat. Der kommt damit in die Sitzung. Hier wird, um den den Wortbeitrag zu pimpen, aus einer Beschwerde, die ‘Klage vieler Bürger’. Prompt diskutieren Dutzende Erwachsene über neue Bodenschwellen, Schilder oder andere Verbote. Aus Bürgern werden Kinder, die man führen muss.
Es stellt sich die Frage, ob die vielen ‘Maßnahmen’ in der Pandemie bei Staat und Bevölkerung einerseits ein seltsames Abhängigkeitsverhältnis erzeugten. Motto: ‘Du steuerst mich, dafür gibst du mir auch eine permanente Absicherung’? Spricht man Hagn über diese Verbote, stellt der ehemalige Zollbeamte immer wieder die Frage nach der Durchsetzung der Verbote. Denn hier liegt die Krux. Die besten Verbote wollen kontrolliert werden.
Bestes Beispiel im Tegernseer Tal ist die Durchfahrbeschränkung für LKW in der Nacht. Anlieger der Bundesstraßen wissen ein Lied davon zu singen, wenn sie in der Nacht vom Lärm der Holztransporter aus oder nach Österreich aus dem Schlaf gerissen werden. Polizeikontrollen? Eher selten.
Aber wozu dann das Verbot?
Und so wäre es auch an der Schwaighofbucht. Wer will dort kontrollieren? Ein hoher administrativer Aufwand – wofür? Gefühlte Sicherheit von Rollatoren-Rentnern? Wäre das zivilgesellschaftliche Eingreifen, gern als Blockwart-Gehabe verschrien, nicht besser? Ein freundliches Hinweisen, statt Zurechtweisen, hilft beim Hundespaziergang wie auch beim Promenieren. Üben wir das alle doch einmal.
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