Verzweiflungstat Suizid?
Wenn die Einsamkeit zu groß wird

Der jüngste Fall ist wenige Wochen her: Ein 82-jähriger Wiesseer tötet erst seine kranke Frau und dann sich selbst. Der Tod im Alter ist ein Tabuthema: Wir sprachen mit einem Arzt und einem Seelsorger.

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Symbolbild / Foto: Stefan Schweihofer

Noch klebt das Siegel der Staatsanwaltschaft an der Tür. Dahinter wurde getötet. Ein Paar, beide über 80, scheidet aus dem Leben. Oder tötete sich. Es ist schwer, die richtigen Worte für etwas zu finden, was immer häufiger in unserer Gesellschaft passiert, aber selten offen ausgesprochen wird – der Suizid unter Senioren. Zu den Zahlen.

Anmerkung der Redaktion

Wir berichten in der Regel nicht über Selbsttötungen, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben – außer, Suizide erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit, so wie im aktuellen Fall.
Wenn Sie das Thema belastet, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge unter der 0800-1110111 oder das Info-Telefon der Deutschen Depressions-Hilfe unter der 0800 33 44 533.

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Bis zu 10.000 Menschen töten sich pro Jahr in Deutschland. Diese Zahl ist mit einigen wenigen Ausreißern konstant. Was sich drastisch ändert: Seit Jahren steigt die Zahl der Selbsttötungen ab dem 80 Lebensjahr – zum Teil um ein Drittel. Offizielle Begründungen erklären das gern mit der zunehmenden Lebenserwartung, der verbesserten Lebenserhaltung. Nur: Dahinter verbergen sich wesentlich komplexere, traurige Beweggründe. Mehrheitlich sind es Männer, die diese Entscheidung treffen. Die Gründe sind oft für Außenstehende sogar nachvollziehbar. Chronische, schmerzhafte Erkrankungen, die eingeschränkte Mobilität, der Tod des Partners, Selbstisolation – das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Vielzahl der altersbedingten Gründe. 

Dr. Thomas Straßmüller aus Gmund.

Der selbstgewählte Tod nimmt zu

Dr. Thomas Straßmüller, Notarzt aus Gmund, kennt noch einen anderen Grund: “Ein großer Anteil hiervon ist bei alten Menschen sicher eine Form des selbstbestimmten Sterbens oder das, was man unter dem umstrittenen Begriff “Bilanzsuizid” zusammenfasst: Also Menschen, die ihre Lebensbilanz so negativ werten, dass sie den Tod wählen oder Menschen, die unheilbar krank sind und deshalb sterben wollen.” Er kennt solche Fälle aus der eigenen Arbeit: “Spontan fallen mir in diesem Jahr mehr Fälle ein als in den letzten Jahren. Aber das ist anekdotisch und statistisch nicht relevant.”

Auch Monsignore Walter Waldschütz ist als katholischer Seelsorger mit dem Thema konfrontiert. “Ich bin regelmäßig im Mehrgenerationenhaus in Egern zu Gesprächsrunden, hier wird das Thema auch nicht ausgespart. Bei Hausbesuchen erlebe ich, dass oft Angehörige Angst haben, dieses Thema zu artikulieren. Manchmal aber sind Leute allein gelassen und sehen keinen anderen Ausweg als ihr Leben zu beenden.” Die Angehörigen sind, da sind sich beide einig, der entscheidende Punkt. Wenn Kinder die Verzweiflung ihrer Eltern nicht wahrhaben wollen (“Ach was, du lebst noch Jahre…”), oder schlicht nicht das Thema ansprechen, weil sie Ablehnung oder gar die nicht ausgesprochene Unterstellung niederer Beweggründe (“Dir geht es nur ums Erbe”) fürchten, entsteht ein im wahrsten Sinne des Wortes tödliches Schweigen. 

Rechtzeitig Hilfe holen

Im Tegernseer Tal hat es in der Vergangenheit immer wieder Fälle, durchaus auch prominente, von Suizid im Alter gegeben. Otto Beisheim, Unternehmer und großer Spender diverser Einrichtungen, erschoss sich im Angesicht einer schweren Krankheit. 

Auch wegen solcher Verzweiflungstaten ist das aus einer Privatinitiative heraus geborene Bemühen, im Landkreis ein Hospiz zu errichten, geschehen. Das Sterben wird aus der privaten Anonymität geholt, wird thematisiert, findet einen Ort. Aber noch ist der Bau in Bad Wiessee nicht fertiggestellt. Dr. Straßmüller aber weist auf andere, bereits existierende Angebote hin: “Die Palliativmedizin hat riesige Fortschritte gemacht. Hier im Landkreis gibt es eine Palliativstation, ein SAPV-Team, palliativmedizinisch ausgebildete Hausärzte, es gibt den Hospizkreis und eben demnächst auch ein Hospiz.” Pfarrer Waldschütz weiß: “Es gibt auch ambulante Palliativbegleiter. Wichtig ist auch, die Menschen zu ermutigen, mit einem Seelsorger, einer Fachkraft oder einem Arzt darüber zu sprechen, noch wichtiger, auch selbst den Mut zu haben, mit Angehörigen auf ein solches Gespräch einzulassen.”

Keine Angst vor der dunklen Zeit

Straßmüller weist auf die altbekannte Telefonseelsorge unter 0800 1110111 hin. Dann sei da noch der Krisendienst Psychiatrie Oberbayern, erreichbar unter der 0800/655 3000, “eine hervorragende Institution, fachlich qualifiziert, mit aufsuchenden Teams, die auch nach Hause kommen.”

Das ist auch eine Anlaufstelle für Angehörige, die sich sorgen, die die Ängste der Eltern oder Großeltern spüren, aber oftmals keine Worte finden. Generell ist stetiger Kontakt ein Schlüssel zu einem friedlichen Sterben. Es ist eine Binse, dass Kinder nach dem Tod der Eltern fehlende Gesprächsmomente bereuen. Bei einem Suizid kommt dann noch das Gefühl der Schuld hinzu. Straßmüller erklärt: “Häufig ist Einsamkeit die treibende Kraft. Hier kann ich die Broschüre des Landratsamts Miesbach ‘Licht an – Damit Einsamkeit nicht krank macht!’  empfehlen, die im Februar dieses Jahres erschienen ist. Zudem gibt es Begegnungsstätten wie Mehrgenerationenhaus und Hiltl-Haus. Unter 089 / 189 100 26 gibt es die Telefon-Engel, die Telefongespräche für Senioren gegen die Einsamkeit anbieten.”

Wir sind in einer dunklen Jahreszeit angekommen. Die Welt und die Politik mag uns stressen. Und in diesen Momenten sollten wir unsere Väter und Mütter, unsere Seniorinnen und Senioren besuchen, ihnen zuhören, von unseren Sorgen berichten. Sie haben die Welt gesehen, wissen oft gelassenen Rat zu geben. Auch wenn es erst mühselig zu sein scheint, das Begleiten in den Tod nahezu schrecklich auf uns wirken mag. Der Mensch hält das aus. Und unsere Gesellschaft hat in den letzten Jahren mit den genannten Einrichtungen viel Unterstützung für uns geschaffen. Keiner muss sich in Einsamkeit und aus Verzweiflung auf grausame Weise töten.  

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