Was erst mal nach Chaos klingt, ist ein Verkehrskonzept, das sich „Shared Space“ nennt. Könnte das eine Lösung für den Tegernsee sein?
Es klingt irgendwie etwas unvorstellbar, was die 12.000-Einwohner-Gemeinde Bohmte vor rund zehn Jahren angestoßen hat: zwei Millionen Euro wurden dort ausgegeben – nicht, um den Verkehr neu zu lenken, sondern um die Hauptstraße komplett abzubauen. Alle Verkehrsschilder wurden entfernt, eine große Kreuzung mit sämtlichen Bordsteinen, Ampeln und Zebrastreifen aufgelöst. Anstatt aus Straße, besteht das Zentrum heute aus großen gepflasterten Flächen.
Benutzen dürfen die neu entstandenen Flächen alle gleich. Die Vorfahrt für Autos wurde genauso aufgelöst wie gesicherte Übergänge für Fußgänger. Wer mitten auf der ehemaligen Straße laufen möchte, kann das tun. Wer auf dem ehemaligen Bordstein fahren will – verboten ist es nicht. Es gilt nur eine Regel: Passt aufeinander auf! Das Verwunderlichste daran: Es funktioniert seit über fünf Jahren.
Das ungewöhnliche Verkehrskonzept nennt sich “Shared Space“. Der Gedanke dahinter ist es, durch gezielte „Unsicherheit“ neue Sicherheit zu schaffen. Durch das Auflösen starrer Regeln wird die Aufmerksamkeit eines jeden Einzelnen gefordert. Jeder wählt selbst die Geschwindigkeit, die sich sicher anfühlt, jeder überquert die Straße dann, wann er es für richtig empfindet. Im Zweifelsfall wird auf Verständigung über Blickkontakt gesetzt.
Durch den Rückbau wurde Lebensraum geschaffen
Der Effekt für Bohmte war gewaltig. Es wurde viel neuer Raum geschaffen, der vormals durch Verkehrsinseln, Fußgängerüberwege und Ampeln belegt war. Die Geschwindigkeit der Fahrzeuge hat sich deutlich verringert – gleichzeitig kommt es aber auch zu weniger Stau und einem generell besseren Verkehrsfluss.
Die Unfallzahlen haben sich kaum verändert und beschränken sich seither vor allem auf Blechschäden beim Ausparken vor einer Gaststätte. Die ursächliche Laterne wurde inzwischen entfernt. Schwere Unfälle hat es seit der Einführung keine mehr gegeben. Auch Unfälle mit Fußgängern gab es nicht. Unfälle mit Radfahrern blieben in etwa auf dem Niveau vor den Umbaumaßnahmen. Und das in einem Ort mit traditionell starkem Durchgangsverkehr von über 12.000 Fahrzeugen täglich.
Die größte Veränderung ergab sich in einer Befragung der Anwohner (link zur Abschlusspräsentation als PDF) aber im Gefühl der Verbundenheit. Dadurch, dass der Verkehr nicht mehr auf erkennbaren Straßen kanalisiert ist, gibt die Mehrheit der Befragten heute an, dass sich die Lebensqualität erhöht hat. Viel wird dazu sicherlich der andere optische Eindruck beitragen. Der Ort richtet sich nicht mehr an den Straßen aus, sondern hat optisch mehr Raum gewonnen, wie es das Konzept vorsieht:
Statt einer dominanten Stellung des motorisierten Verkehrs soll der gesamte Verkehr mit dem sozialen Leben und der Kultur und Geschichte des Raums im Gleichgewicht stehen. Durch Entfernen der Kanalwirkung der Straßen sollen die Orte wieder Persönlichkeit erlangen. Verkehrsteilnehmer und Nutzungen sollen im Straßenland gleichwertig nebeneinander existieren und sich den Raum teilen. Zusätzlich zur Lebensqualität soll so auch die Verkehrssicherheit verbessert werden.
In der Befragung kam aber auch deutlich zutage, dass das „individuelle Selbstbewusstsein“ der Verkehrsteilnehmer viel mit der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit zu tun hatte. So gab die Hälfte der Befragten an, seit der regelfreien Lösung „mehr oder viel mehr Zeit zum Überqueren der Straße“ zu benötigen. Während die andere Hälfte genau das Gegenteil angab, seit es keine Fußgängerampeln mehr gibt.
Ähnlich reagierten auch die Einzelhändler vor Ort. Nur eine Minderheit gab an, dass sich die Umsätze durch die neue Verkehrslösung direkt verschlechtert oder verbessert hätten. Allerdings habe sich die Anzahl der Passanten erhöht. Insgesamt bewerten sowohl unter den Einwohnern wie auch unter den Gewerbetreibenden und den Verkehrsteilnehmern etwa 80 Prozent die Umgestaltung des Ortes als sehr positiv.
Mehr noch als viele andere Verkehrsmaßnahmen steht und fällt ein so radikaler Ansatz aber mit dem Willen der Verantwortlichen. Eine Anpassung in kleinen Schritten ist dabei nicht möglich. Von Start weg wurde die Planung in Bohmte unter Einbeziehung der Bürger, lokalen Händlern und internationaler Experten organisiert. Die Gemeinde organisierte Reisen ins Ausland, um Ortsbegehungen zu machen und sich bereits umgesetzte Konzepte anzuschauen.
Es wurden Anträge auf EU-Fördergelder gestellt und langwierige Verhandlungen mit den Straßenverkehrsbehörden in Kauf genommen, um die rechtliche Grundlage für einen Ort „ohne Verkehrsregeln“ zu schaffen. In der normalen Straßenverkehrsordnung ist der Gedanke nicht vorgesehen und verstößt gegen einige rechtliche Auflagen. Am Ende fand man Lösungen für all diese Probleme, die anfangs vermutlich unlösbar erschienen.
Verkehrsplanung als Neuausrichtung eines Ortes
In Bohmte hatte man sich dazu entschieden, die Lösung langjähriger Verkehrsprobleme mit einer kompletten und überaus mutigen Neuausrichtung des Ortes zu verbinden. Die Verantwortlichen waren sich darüber im Klaren, dass ein Scheitern des Projekts und ein Rückbau von Straßen und Ampelanlagen die Gemeindekasse auf Jahre ruiniert hätten.
Ganz stressfrei verlief der Umbau dann aber doch nicht. Durch die hohe Verkehrsbelastung, vor allem durch täglich rund 11.000 Pkw sowie 1.000 Lkw und eine mangelhafte Ausführung der Baufirma müssen Teile der Pflasterung bereits nach wenigen Jahren erneuert werden. An einigen Stellen wird man sich wohl ganz von der optisch ansprechenden Pflasterung verabschieden und die Flächen asphaltieren müssen.
Die Zahlen der Fahrzeuge sind mit denen im Tegernseer Tal annähernd vergleichbar. Zwischen 20.000 und 30.000 Fahrzeuge werden am Eingang zum Tal in Gmund gezählt. In den anderen Ort rund um den See sind es entsprechend weniger. Ob das Konzept auch im Tegernseer Tal funktionieren kann? Es ist zumindest einen zweiten Blick wert, wenn man sich wirklich offen über die Zukunft des Verkehrs im Tal Gedanken machen möchte.
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