Zugegeben, der Weg nach Holzkirchen ist nicht gerade einfach, vor allem mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zu Spitzenzeiten fährt die Linie 8070 von Würzburg in Richtung Wertheim alle zwei Stunden. Man braucht als Besucher vor allem Zeit – oder ein Auto.
Das eine habe ich, das andere nicht, was die Wahl einfach macht. Ich nehme den „Frankenbus“. Der benötigt etwa eine halbe Stunde und lässt Orte wie Waldbüttelbrunn, Remlingen oder Uettingen hinter sich, bevor er sich langsam dem Ortsschild nähert: „Holzkirchen“.
Den kleinen Reflex, der einem als Holzkirchner beim Lesen ein „Daheim“-Gefühl vorgaukelt, unterdrücke ich schnell. Nein, das ist ein anderes Holzkirchen, ich bin mit dem Bus gekommen und das da vorne ist auch nicht das Awas-Pub.“
Nach der eigenen Vergewisserung, nicht zuhause, sondern rund 300 Kilometer nördlich davon zu sein, beginnt die instinktive Suche nach Kontrasten zur eigenen Heimat, die einem –zugegeben – recht einfach fällt. Zu schön ist der erste Eindruck, den der Ort bei einem hinterlässt.
Einzigartige Architektur
Denn kurz nach dem Ortsschild offenbart sich dem Besucher ein architektonisches Monument: Der Benediktushof, eine Klosteranlage mit Rundkirche, entworfen von Balthasar Neumann, Baumeister des Barock, Errichter der Würzburger Residenz (UNESCO-Welterbe) und „dieser Typ auf dem 50-DM-Schein“.
Die Kirche ist die einzige Rundkirche, die Neumann je entworfen hat. Sie überragt hier alles. Und während man im oberbayerischen Holzkirchen wohl ewig rätseln wird, ob man seinen Ortsnamen nun von einer Kirche „aus Holz“ oder „im Holz“ hat, war die Frage hier wohl nie ein Thema ob des dominanten Klosterareals, das schon beim ersten Betrachten ein bisschen Neid aufkommen lässt.
In puncto Schönheit scheint der Vergleich zwischen Oberbayern und Unterfranken früh entschieden. Das kleinere Holzkirchen wirkt wie aus einem Guss, etwas mittelalterlich und verschlafen, aber immerhin.
Die Hauptstraße, auf der alle fünf Minuten ein Auto vorbeifährt (noch so ein Unterschied), schlängelt sich ruhig zwischen Fachwerkbauten, einigen maroden Hütten und klassisch bürgerlichen, manchmal auch etwas spießigen Vorgärten (definitiv eine Gemeinsamkeit!). Kein Marktplatz, keine Gewerbegebiete, aber eben auch keine Supermärkte, Läden oder sonstige Einkaufsmöglichkeiten. Abgeschiedenheit geht nicht ohne Abgeschnittenheit.
Der Bus hält auf der Hauptstraße an der einzigen Bushaltestelle und entlässt mich in eine zweieinhalbstündige Sightseeing-Tour, die mich die Zeit bis zur nächsten Rückfahrgelegenheit überbrücken lässt. Doch zunächst will man hier auch gar nicht weg. Hach, diese Ruhe, beinahe spirituell.
Holzkirchen – Hort der Spiritualität
Dass die besinnliche Stimmung kein Zufall ist, merkt man nach dem Einbiegen auf das Klosterareal. Die ehemalige Benediktinerpropstei beherbergt keine christlichen Mönche mehr, sondern hat längst andere Mieter, weniger dogmatische, dafür umso gläubigere. Fans von Zen-Buddhismus, von Yoga und von Dingen, von denen ich noch nie gehört habe, haben sich auf dem Gelände einquartiert und daraus ein Wohlfühlzentrum für Sinnsuchende gemacht, inklusive Hofladen und vegetarischem Restaurant.
Ein Blick auf das Seminarprogramm verrät, dass der Fokus wohl auf der fernöstlichen Glaubenswelt liegt und mir jeden Tag eine andere Möglichkeit bietet, meinen Geist zu erkunden. Seminare wie „Die Kunst des Müßiggangs“ oder „Der Zen-Weg mit Schwert und Pinsel“ klingen vielversprechend, finden heute aber leider nicht statt. Der volle Parkplatz verrät allerdings, dass der Benediktushof kein Nachfrageproblem hat. Erleuchtung als Wirtschaftsfaktor. Holzkirchen scheint ein Tourismusort zu sein.
Holzkirchen in Zahlen
Doch wie jeder anständige Tourist will ich nicht nur die Sehenswürdigkeiten abgehen (an jeder Ecke stehen beeindruckende kleine Denkmäler, Brunnen und Statuen), sondern mache kehrt und suche das echte, das typische Holzkirchen. Das besteht – in nackten Zahlen – aus 984 Einwohnern, belegt eine Fläche von 8,42 km², liegt 198 m über NN, wurde 775 n. Chr. gegründet und hat die Postleitzahl 97292. Holzkirchen ist kleiner und älter als Holzkirchen.
Der FC Holzkirchen belegt aktuell in der Kreisklasse Würzburg 4 nach zwei Spielen den elften Rang – jeder Vergleich mit irgendwelchen Landesligisten wäre unangebracht. Auch politisch gibt es kleine Unterschiede: Der Ort wird seit 1996 von einem Freien Wähler regiert.
Wer das Gespräch mit Holzkirchnern sucht, hat es erst mal schwer. Nicht, weil es den Bewohnern an Offenheit fehlt, sondern weil gerade kaum jemand da ist. Die wenigen Leute, die ich treffe, sind mit Gartenarbeit beschäftigt.
Einer, der beide Welten kennt
Zum Glück gibt es Gasthäuser, und die Wahl fällt ziemlich leicht. Das vegetarische Restaurant bei den Buddhisten hat noch geschlossen, das einzige offene Lokal ist das Gasthaus „Zur Krone“, direkt neben der Bushaltestelle. Was für ein Luxus, nicht die Qual der Wahl zwischen Oberbräu, alter Post oder der nächsten Weinbar zu haben. Das fränkische Holzkirchen hat in der „Krone“ seine Heimat, und zwar in der siebten Generation, wie ich von Michael Müller (28), dem Betreiber der Gaststätte erfahre.
Seine Familie bewirtschaftet das Lokal seit dem Jahr 1831, einer Zeit, als sich Franken und Bayern noch bedeutend uneiniger waren als heute. Heute geht es weit friedlicher zu, die meisten Besucher sind eher auf der Suche nach Erleuchtung: „Die Touristen kommen vor allem wegen dem Kloster gegenüber, viele übernachten auch bei uns“, so Müller.
Der Besuch in der “Krone” ist die richtige Wahl. Nicht nur wegen der fränkischen Spezialitäten wie dem „Schäufele“, dem Sauerbraten oder der zugegeben viel besseren Bratwurst, sondern weil man hier auch das einzige Bindeglied zwischen dem einen und dem anderen Holzkirchen findet: Den Koch selbst, Michael Müller, der den Familienbetrieb erst vor wenigen Jahren übernommen und davor im bayrischen Oberland gearbeitet hat.
Er war Koch in der Rottacher „Überfahrt“ und im „Frühauf im Postillion“. Er kennt das Oberland von seiner nobelsten Seite. Gewohnt hat er einige Zeit in Wildbad Kreuth. „Es war eine tolle Zeit, in der ich viel gelernt habe“, betont Müller. „Doch da unten habe ich immer für andere gearbeitet, hier kann ich meine eigene Küche machen. Außerdem hat das Heimweh schon auch eine Rolle gespielt.“ Auf die Frage, ob er auch mal in Holzkirchen war, antwortet er schmunzelnd:
Ja, einmal auf einem Fußballturnier, aber an mehr als den vielen Verkehr kann ich mich kaum erinnern.
Wenn man einen Blick auf die Speisekarte wirft, weiß man, was Müller mit der „eigenen Küche“ meint. Saisonale Gerichte, Blut-und Leberwurst aus eigener Herstellung und in großstädtischen Ballungsräumen fast vergessene Rituale wie ein monatliches Schlachtschüsselessen, zu dem das Restaurant restlos ausgebucht ist.
Auch sonst dominiert Regionalität: Das Wild kommt vom Jäger, dazu gibt es saisonales Gemüse. Fertig. Auf die Frage, ob er aus seiner Zeit im Oberland etwas für die Küche mitnehmen konnte, sagt Müller in bestem Fränkisch: „Klar, vor allem einzelne Facetten, aber ich kann hier ja keinen Hummer servieren.“ Plötzlich fühle ich mich wie ein Klischee. Und muss weg. Mein Bus fährt gleich.
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