Weihnachten steht vor der Tür – doch statt Schnee prasselt der Regen auf mich herab. Endlich öffnet mir eine nette Dame die Tür. Gisela Beck begrüßt mich freundlich und bittet mich einzutreten. In ihrer warmen Stube steht ein Teller Plätzchen auf dem Tisch. „Passend zum heutigen Thema“, schmunzelt Beck.
Für ihre 90 Jahre wirkt sie noch sehr frisch. Wenn sie von der damaligen Zeit spricht, dann immer in lebhaften Erzählungen. Fast scheint es, als würde sie kurz zurückkehren. Zurückkehren an die Orte ihres bewegten Lebens. Als sie von ihren ersten Weihnachtserinnerungen erzählt, beginnen ihre Augen fröhlich zu glänzen. „Das erste Weihnachten, an das ich mich erinnere? Nun, das war noch in Leipzig, ich muss 8 Jahre gewesen sein.“ Damals, 1932, sei alles viel bescheidener gewesen als heute.
Weihnachten durch Kinderaugen
Ein paar Orangen, Nüsse und gute Lebkuchen? Heutzutage kostet das höchstens ein paar Schritte in den Supermarkt. Doch für Gisela und ihre Schwester war der Weihnachtsteller mit genau diesen Leckereien ein echtes Weihnachtsgeschenk. „Meine Schwester und ich waren nicht so auf Puppen aus“, erklärt Beck. Vielmehr wünschten sich die kleinen Tierliebhaber plastische Steiff-Tiere aus Terrakotta für ihren „Zoo“. „Mit drei bis vier Mark war das schon relativ teuer.“
Dazu gab es meist etwas Nützliches, beispielsweise eine nette Bluse oder ein Buch. Das sei auch schon genug gewesen. Für große Dinge wie ein Fahrrad musste Beck ihr Geld selbst sparen. Einmal habe Beck aber Schlittschuhe bekommen, das war etwas Besonderes. Vor der Bescherung fuhr sie mit ihrer Familie in die Kirche. Mit einer Kutsche. Ihr Vater habe diese extra für den hohen Tag bestellt. Danach kehrte die Familie heim.
Leuchtendes Lametta und heimliche Naschereien
Dann wurde gemeinsam gegessen. Meist gab es kalte Platten mit Käse oder Fisch. „Karpfen war damals sehr beliebt.“ Kostspielige Speisen wie Lachs waren dagegen eher selten. Auch Fleisch war etwas ganz Besonderes. Wenn es einen Braten gab, dann einen frischen Hasenrücken mit Rotkraut und Rotweinsoße.
Natürlich wurden auch gemeinsam Plätzchen gebacken. Eine weitere Weihnachtsspezialität war der Dresdner Stollen. Vor der Bescherung sang die Familie gemeinsam Lieder. Wer ganz brav war, habe auch noch ein Gedicht aufgesagt. „Mein Vater konnte so wunderbar erzählen“, erklärt Beck. Oftmals habe er von sich und seinen acht Brüdern erzählt, die allerlei Streiche auf dem großen Gut ihres Großvaters trieben.
So umringte die ganze Familie den glitzernden Christbaum. Beck erinnert sich genau an die silbernen Lamettafäden und Süßigkeiten, es waren Kringel, aus Schokolade oder Likör, die die weihnachtliche Tanne schmückten. Beck schmunzelt und verrät, dass sie und ihre Schwester oftmals von den Leckereien naschten. Doch ihre Mutter hatte alles fein säuberlich abgezählt. „Da hat doch jemand was stibitzt!“, stellte ihre Mama immer wieder fest.
Von der heilen Welt in eine dunkle Zeit
„In der Kriegszeit war an Weihnachten nicht zu denken“, erklärt Beck mit trauriger Miene. Wir schreiben das Jahr 1943. Es war der kälteste Winter, den Beck je erlebte. Sie erzählt von ihren bösen Erinnerungen an den schlimmen Bombenangriff auf Leipzig:
Wir sagten immer, sie werfen Christbäume auf uns.
Schließlich hätten die Leuchtkugeln, die den Angreifern zur Beleuchtung und Zielfindung für ihre Bombardements dienten, in ihrer charakteristischen Formation genau so ausgesehen. Gerade ihr Wohnviertel sei ein Ziel der Luftangriffe gewesen. Beck erinnert sich genau an den Keller, in den sie sich vor der Gefahr flüchteten.
„Als ich runterlief, flogen schon die ersten Bomben.“ Sobald der Alarm ertönte, begaben sich die Bewohner in den stockdunklen und kalten Keller mit ein paar Bänken. Dort verbrachten sie meist mehrere Stunden. Nur einen Koffer mit den wichtigsten Dingen, Dokumenten und Geld hatten sie bei sich. „Die Erde hob und senkte sich ganz heimlich.“
Beck hat alles hautnah miterlebt: Sie sah zahlreiche Nebenhäuser einstürzen. Menschen, die unter Trümmern begraben wurden und nicht einmal von den engsten Verwandten identifiziert werden konnten. Es sei fast ein Wunder, dass ihr Haus nicht eingestürzt sei. „Viele Anwohner haben sich in unseren Keller gerettet.“ Unter ihnen war auch eine hochschwangere Frau. Ohne Arzt oder Hebamme, auf dem kalten und staubigen Boden, brachte diese ihr Kind zur Welt.
Die düstere Nachkriegszeit – ein kalter Winter
Nach dieser schweren Zeit folgte noch keine Erlösung. Keine Adventskerze erleuchtete die düstere Nachkriegszeit. „Weihnachten war sehr traurig, wir merkten nichts davon. Wir waren froh, wenn wir überhaupt satt wurden“, erklärt Beck. Pro Person gab es pro Tag höchstens eine Scheibe Brot. Mit Essenskarten konnten sich die Familien 150 Gramm Butter und 180 Gramm Fleisch besorgen. Das reichte freilich nicht. Aus Heißhunger aßen sie diese Vorräte schnell auf. Auch ihr geliebter Hund hatte nichts außer Kartoffelschalen.
Lediglich eine Kerze erleuchtete die dunklen Räume. Sie hatten weder fließendes Wasser, noch Strom. Um ein wenig Trinkwasser zu erhalten, musste Becks Familie lange an den Hydranten anstehen. Es gab keine Heizmöglichkeit – und das im kältesten Winter. Die Fenster waren zerschlagen und nur mit Pappe bedeckt. Lediglich eine Kerze erleuchtete die dunklen Räume. Um ein wenig heizen zu können, versuchte sie mit ihrer Mutter und vielen weiteren, am Güterbahnhof von den Wägen Kohle zu klauen.
Wege aus dem Schrecken: Flucht nach Tegernsee
1947 wurde Leipzig besetzt. Durch die Straßen der Besatzungszone zogen betrunkene Russen. Besonders für Mädchen war diese Situation gefährlich. Beck durfte nachts nicht aus dem Haus. „Stoi! Stoi! Frau, komm mit!“, hätten die Soldaten oftmals gerufen. Auch Beck rannte einst um ihr Leben, als sie ein russischer Soldat mit seinem Gewehr bedrohte. Doch sie schaffte es, sich zu retten. Vielen Frauen aus ihrem Bekanntenkreis gelang dies nicht.
Schließlich beschlossen sie und ihr bereits verstorbener Mann, der international bekannte Maler Herbert Beck, zu fliehen. Aus politischen Gründen kehrten sie Leipzig den Rücken und machten sich auf den Weg nach Tegernsee. Mithilfe des SPD-Bürgermeisters aus Schöneberg gelang ihnen die Flucht. Ein Engländer flog sie aus der Gefahrenzone.
„Wir haben alles stehen und liegen lassen, um diesem Schrecken zu entkommen“, erklärt Beck. Die 23-jährige Gisela und ihr Verlobter hinterließen ein Gut und ein Landhaus von der Familie ihres Verlobten. Doch am Ende haben sich alle Strapazen ausgezahlt:
Als wir in Rottach-Egern waren, waren wir erlöst.
1948. Gisela und Herbert Beck erreichen Rottach-Egern. Sie kannten den Ort durch ihre Schwiegereltern. Diese verbrachten früher ihren Urlaub am Tegernsee. Bei ihrer Ankunft fand das junge Paar Beck bei einem Künstlerpaar aus Paris Zuflucht. Die Operettensängerin und der Operettensänger, beide rund 50 Jahre alt, nahmen das Paar Beck wie ihre eigenen Kinder bei sich auf.
Ein Jahr lang lebten die beiden dort. Vier Wochen später reisten ihre Schwiegereltern nach. Ihre Schwiegermutter kam bei ihnen unter, ihr Vater blieb zunächst für Geschäfte in Bad Kissingen. Ein Jahr später flohen auch ihre Eltern. Dann zog das Paar in ein Holzhaus am Michael-Dengg-Weg. Das Haus mit dem Namen „Kutscherhäuschen vom Serbenschloss“, lag direkt gegenüber des jetzigen Heims von Gisela Beck.
Es war sehr bescheiden, doch es reichte für die beide: „Wir waren froh, ein Dach überm Kopf zu haben“, erklärt Beck. Sie fühlten sich wie im Paradies. Es gab viel einzukaufen, auch ohne Lebensmittelkarten. Doch sie gibt zu, dass es anfangs auch nicht einfach war: Das Paar konnte kaum Wertsachen aus ihrer Heimat mitnehmen. Doch nach und nach schafften es die Becks, Fuß zu fassen. Sie führten eine Kleinbücherei, Herbert Beck eröffnete Galerien und Gisela Beck wandte ihre Kenntnisse aus ihrem Malerei- und Goldschmiede-Studium an. Die Zeit der Armut nach der Flucht war überwunden. Und auch Weihnachten fand wieder statt.
Die Rückkehr der Weihnacht
1951 kam ihr erstes Mädchen zur Welt. Gemeinsam mit ihren Kindern feierten sie Heiligabend unterm Christbaum. Ihr Mann spielte Akkordeon. In den sechziger und siebziger Jahren, in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, gab es nun auch Lichterketten. Doch trotz wirtschaftlich starker Zeiten: „Weihnachten fiel bei uns nie üppig aus“, erklärt die 90-Jährige. Für sie war es immer wichtig, ihre Kinder nicht zu überhäufen, sondern sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu besinnen.
Darauf kommt es wohl auch an: Das gemeinsame Beisammensein. Das Besinnliche. Aber doch auch ein Stück Magie der Weihnacht. Mit einem breiten Lächeln verrät mir Beck abschließend ihr schönstes, ja magischstes Weihnachtserlebnis: „Einmal, ich war neun oder zehn Jahre alt, da hat sich meine Mutter als Christkind verkleidet.“ So wandelte sie in der abendlichen Dämmerung auf dem gegenüberliegenden Balkon hin und her. Damals hat Beck ganz fest geglaubt, das müsse das Christkind sein. Gisela und ihre Schwester waren tief beeindruckt: „Das Gefühl von Weihnachten, das Gefühl war da!“
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