Der Sekundenzeiger wechselt auf zwölf. Das kleine Mädchen liegt mit angewinkelten Beinen und Decke über den Ohren in seinem Kinderbett, als es plötzlich aus seinen Träumen gerissen wird. Es schlägt die Augen auf. Stimmen wecken das Mädchen und rufen immer wieder seinen Namen:
Kaaarla, Kaaarla! Komm zu uns! Wir warten unten am See auf Dich.
Karla zieht ihre Bettdecke noch weiter über den Kopf und versucht, die immer lauter werdenden Rufe zu ignorieren. „Unten am See“. Damit meinen sie sicherlich den Tegernsee, von dem sie nur drei Minuten entfernt wohnt. „Kaarla!“ Unentwegt hämmert der eindringliche Ton der Stimme auf ihren Schädel ein.
Mit ihren elf Jahren glaubte sie zwar nicht mehr an das Christkind, dafür aber an Monster, Hexen und Clowns. Träumte sie oder waren die Stimmen echt? Die Wirklichkeit macht ihr Angst. Dennoch nimmt sie ihre Jacke, stülpt sich ihre Schuhe über, schleicht auf Zehenspitzen am Schlafzimmer der Eltern vorbei und läuft, von Neugier und Geisterhand gezogen, zum See.
Unruhige Seelen
Alles ist dunkel. Sie hört nur das sanfte Plätschern des Wassers. Ein leichter Wind umspielt ihre Nasenspitze. „Ich kann euch nicht sehen“, flüstert Karla. „Wo seid ihr?“
„Wir sind hier“, kommt es aus der Finsternis zurück. „Was wollt ihr von mir?“ entgegnet das kleine Mädchen. „Wir brauchen Dich. Vor langer, langer Zeit wollten wir hier auf der Ringseeinsel eine Hochzeit feiern. Auf dem Weg dorthin kenterte unser Boot und mit ihm unsere ganze Hochzeitsgesellschaft. Seitdem sind wir dazu verdammt, auf dem Grund des Sees zu hausen. Nur einmal im Jahr, am 31. Oktober, ist es uns erlaubt, an die Oberfläche zu kommen. Uns bleiben nur ein paar Stunden für die Befreiung unserer Seelen. Bisher hat uns nur niemand erhört. Du bist die Erste.“
„Und was kann ich tun?“ fragt Karla.
„Für den Weg in den Himmel brauchen unsere Seelen Licht. Viel Licht. Wenn Du uns das besorgen kannst, dann ist der Fluch beendet.“ Karla denkt nach. Auf dem Weg zur Schule hatte sie heute morgen überall vor den Häusern Kürbisse liegen sehen – und alle leuchteten. Das war`s.
Der Weg in den Himmel ist orange
Sie brauchte exakt zweieinhalb Stunden. Noch bevor die Morgendämmerung hereinbricht erstrahlt der See in einem Meer aus grinsenden, grimmigen und gruseligen Kürbisköpfen. Jetzt kann Karla auch die weiß schimmernden Fäden über dem See erkennen, die sich als menschliche Wesen im See spiegeln. „Danke. Endlich sind wir erlöst“, hauchen die Nebelschwaden noch, bevor sie in der Tiefe des Sees mitsamt den Kürbissen wieder verschwinden.
Morgen ist Allerheiligen. Wenn der Himmel über dem Tegernsee plötzlich in einem seltsamen Orange leuchtet, das sich sogar die Bewohner nicht erklären können, und über das sie noch Tage später rätseln, dann liegt das wahrscheinlich an jener Geschichte von der alten Sage über eine Hochzeitsgesellschaft, die einmal im See versank…
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