Im Tegernseer Bräustüberl sitzen sie alle an einem Tisch: Alt und jung, arm und reich, bekannt und weniger bekannt. Die Faszination der Gegensätze ist es, die wir zusammen mit einer Tegernseer Fotografin in unserer neuen Reihe “Originale am See” festhalten wollen. Heute: Evi Tremmel.
Die Tegernseerin Bommi Schwierz ist Juristin und Fotografin. In ihrem Buch “Der Tegernsee und seine Gesichter” hat sie die Menschen im Tal mit ihrer Kamera festgehalten, denen sie ein Denkmal setzen wollte.
Viel Zeit hat sie nicht. Zum Termin erscheint die 51-jährige Evi Tremmel zehn Minuten und eine Entschuldigung später. Aber als würde die Holzbank, auf der sie sich vor ihrer Bäckerei niederlässt, einen Schalter bei ihr umlegen, verlangsamen sich mit einem Mal ihre Bewegungen, und sie fokussiert sich voll auf ihr Gegenüber. Es scheint, ihre mangelnde Zeit verwandelt sich für einen Moment. Und zwar in einen unbegrenzt bestehenden Platzhalter in ihrem Dschungel der Hektik.
Das ändert sich auch nicht, als hinter ihr mehrere Kunden eilig in die Bäckerei hasten, und im Vorbeigehen ein schnelles „Grüß Gott, Frau Tremmel“ in ihre Richtung rufen. Sie dreht zwar den Kopf, antwortet höflich, wendet sich dann aber sofort wieder ihrem Gespräch zu. Professionell. Gespielt gelassen.
Lehre mit 15, Chefin mit 26
Mit 26 Jahren musste Evi Tremmel den elterlichen Betrieb übernehmen. Zu diesem Zeitpunkt erkrankte ihre Mutter. Sie war 14, als ihr Vater starb. Seither steht sie täglich zwischen drei und vier Uhr morgens auf, geht in die Backstube und bereitet die Semmeln vor. So um die 3.500 Stück pro Tag. Manchmal auch mehr. Beispielsweise, wenn das Seefest dazwischen kommt. Dann werden, so wie heuer, sogar 10.000 Semmeln gebacken.
540 Semmeln passen auf einen Wagen. Das heißt, es gibt Nächte, in den sie – statt von zwei Männerarmen, von 19 mit Semmeln gefüllten Wagen umringt ist. Schlafmangel? Kennt sie nicht. Sie macht sich „einfach keinen Kopp“. Zum Glück arbeitet ihr Mann auch soviel.
Schon als kleines Mädchen war ihr nichts lieber, als zum Papa frühmorgens in die Backstube zu schleichen, während alle anderen noch schliefen. Ihre Konditorlehre begann sie mit 15, ging auf die Hotelfachschule und besuchte schließlich die Meisterschule. Trotz aller Kenntnisse machte sie „Fehler“, sagt sie, und ihre großen braunen Augen blitzen aus einem Netz von Lachfalten.
Unter „Fehler“ versteht die Unternehmerin, Geld für Dinge ausgegeben zu haben, die nicht nötig gewesen wären. Schön wollte Evi Tremmel es immer haben, also dekorierte sie. Was in ihren Augen zu völlig sinnlosen und unnötigen Kaufattacken führte. Heute lacht sie darüber, früher ärgerte sie sich. „Man sollte einfach die Dinge tun, die man für richtig hält.“ Für einen Augenblick glaubt man, die dunklen Punkte auf ihrer Bluse beginnen bei dieser Aussage zu tanzen.
Täglich gibt Tremmel ihren Kunden eine kleine Lebensweisheit mit auf den Weg. Diese schreibt sie auf eine Tafel und platziert sie vor ihrem Geschäft. „Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein“, steht heute zum Beispiel in Handschrift darauf. Zum Glück gehört für sie auch, den Ofen heutzutage nicht mehr am Abend vorher mit Kohle einheizen zu müssen.
Herz und Hand, Fleiß und Verstand
Inzwischen gebe es leider nur noch sehr wenige Bäcker, bedauert sie. Besonders in den 90er Jahren sei es für viele schwer gewesen, mit den aufkeimenden Backshops an Tankstellen und in Supermärkten zu konkurrieren. Aus Bequemlichkeit, alles an einem Ort zu bekommen, haben die Leute dann ihr Brot dort eingekauft, erzählt Evi Tremmel.
Dabei komme es beim Bäckerhandwerk doch auf die Zutaten an, sagt die 51-Jährige. Und man ist sich bei der Betonung dieses Satzes für einen Moment nicht ganz sicher, ob er eher trotzig oder enttäuscht klingen soll. Sie selbst kauft ihr Mehl regional ein. Da weiß sie, wo es herkommt. Auf die Frage, ob die Qualität des Brotes inzwischen verloren gegangen sei oder als Lebensmittel irgendwann ganz verschwinde, schüttelt sie den Kopf.
Brot ist unser Hauptnahrungsmittel. Das bleibt. Egal, wieviel der Mensch ansonsten kaputt macht. Aber das Brot aussterben lassen? Das schafft er nicht.
Andere Bäcker habe sie nie als Konkurrenz gesehen, sondern immer nur als Kollegen. Sich gegenseitig aushelfen, wenn jemand in Not ist, „das ist es doch, worauf es ankommt“, sagt sie. Umso bedauerlicher für die 51-Jährige, dass nur noch wenige ihre Zeit diesem jahrtausendealten Handwerk widmen.
Überhaupt fällt es Evi Tremmel schwer, ihre Tradition der modernen Zeit zu opfern. Coffee to go? Ein No-Go für sie. Richtig allergisch ist sie gegen Anglizismen dieser Art. „Wir haben doch unsere eigene Sprache.“
Wenn jemand in ihren Laden kommt und einen „Coffee to go“ bestellt, sagt sie einfach: „Haben wir nicht.“ Die Leute denken dann immer, ich sei zu doof, erzählt sie schmunzelnd. Aber ein paar Sachen, die sollte man eben einfach so lassen, wie sie sind, findet sie. Genauso wie unnütze Deko-Artikel.
Menschlichkeit bleibt auf der Strecke
Explodieren könnte sie auch bei anderen Dingen. Ist manchmal aus irgendeinem Grund ihr Ausbruchsventil verstopft, dann schweigt sie lieber. Wie sich ihr inneres, emotionales Spannungsfeld auflädt? Durch Sätze wie: „Ihre Bäckerei stinkt.“ Und durch Zuagroaste, die samt Anwalt Altbewährtes in Frage stellen und dagegen angehen.
90 Jahre gibt’s uns schon. Vor meinen Eltern haben meine Großeltern den Laden gehabt. Aber dass unsere Bäckerei stinkt, das habe ich noch nie gehört.
Solche Sachen bleiben hängen. Und enttäuschen. Wenn irgendwo auf einer Strecke, die mit Kommerz und Oberflächlichkeit zugepflastert ist, das Menschliche unter die Räder gerate – „Sowas bringt mich durcheinander“, gibt Evi Tremmel zu. Dann können schon einmal Tränen fließen, oder eben die Worte fehlen.
Früher sei das anders gewesen. Da sei viel mehr miteinander geredet worden. Heute komme den meisten kaum noch ein „Grüß Gott“ über die Lippen. Zumindest funktioniere das Miteinander noch bei den Einheimischen untereinander, freut sich die 51-Jährige. Von Alt bis Jung hat sie aus dem Ort Unterstützung bekommen, als beispielsweise ihre Mutter starb. Oder zu ihrem 50. Geburtstag.
Da kann man nicht alles verkehrt gemacht haben.
Sie mag das Normale, ihre Heimat. Angst hat sie nur, dass ihr Handwerk eines Tages aussterben könnte. Oder noch mehr Häuser gebaut werden. Oder noch mehr Autos die Straßen bevölkern. Ihr Lieblingsspruch, den sie auswendig zitiert, klingt in diesem Zusammenhang wie ein Dogma für die richtigen Zutaten im Leben:
Nimm ein Quantum guten Willen, 100 Gramm Verträglichkeit, eine gute Dosis Frohsinn, und ein Lot Bescheidenheit. Misch in diese guten Sachen, Gottvertrauen mit hinein, und Du hast für alle Zeiten, ein Rezept zum Glücklichsein.
Inzwischen ist auch der letzte Gast gegangen. Während eine Mitarbeiterin langsam aufzuräumen beginnt, wird auch Evi Tremmel langsam unruhig. Viel Zeit hat sie nicht mehr. Um 22 Uhr endet ihr Abend.
Ich trinke den letzten Schluck von meinem Cappuccino. Beim Absetzen der Tasse stoße ich an einen Keks, der bisher unbemerkt auf meiner Untertasse lag. Er ist eingehüllt in ein Stück Papier, auf dem zu lesen ist: „Ich bleibe bei meiner Meinung. Verwirren Sie mich nicht mit Tatsachen.“
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