Dreieinhalb Stellen für ein Halleluja

Die Regelschulen kapitulieren: Suizidgefährdete Schüler, überforderte Lehrkräfte und Eltern im Dauerstress gehören längst zu deren Schulalltag. Tobias Schreiner, neuer Schulleiter der Realschule Tegernseer Tal, brachte es im gestrigen Kreisausschuss auf den Punkt: „Wir brauchen keine Therapie, sondern Betreuung“.

Der neue Schulleiter der Realschule Tegernseer Tal (links) ist wie seine Schulleiterkollegen der Meinung, Sozialarbeit an Schulen sei dringend notwendig. Das sieht Landrat Wolfgang Rzehak (rechts) genauso.

Das Thema „Schulsozialarbeit“ ist nicht neu, die Diskussion darum im Landkreis dagegen hochaktuell. Gestern entschied der Kreisausschuss, den weiterführenden Schulen 370.000 Euro zur Verfügung zu stellen. Mit dem Geld werden jetzt dreieinhalb Sozialpädagogen-Stellen geschaffen – ohne staatliche Förderung. Für mehr Stellen stehe kein Budget zur Verfügung, betonte Landrat Wolfgang Rzehak.

Die Fachoberschule Holzkirchen, die Realschule Holzkirchen, die Realschule Miesbach, die Realschule Gmund sowie die Gymnasien Holzkirchen, Tegernsee und Miesbach können somit je eine Teilzeitstelle einrichten. Eigentlich sei es Aufgabe des Freistaats, die Schulen finanziell zu unterstützen, so Rzehak gestern.

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Aber die Leidtragenden dürfen nicht die Kinder sein.

Zwar sei die Problematik im Landkreis nicht ganz so extrem wie in den Großstädten, aber auch hier mache sich der gesellschaftliche Wandel bemerkbar. „Wir sind keine Insel der Glückseligen“, so Rzehak.

Kaum Zeit für Unterricht

Stellvertretend für alle Schulen begründete Joachim Fischer, Schulleiter der Realschule Holzkirchen, den Bedarf: Schon lange würde der frühere Lehr- und Erziehungsauftrag an den Schulen nicht mehr ausreichen. Immer mehr Kinder mit Lernschwäche oder Behinderungen müssten betreut und gefördert werden. Um beispielsweise Lese- oder Rechtschreibschwächen auszugleichen, bliebe keine Zeit mehr.

Immer mehr familiäre Probleme müssten die Schulen bewältigen, so Joachim Fischer, Schulleiter der Realschule Holzkirchen, gestern im Kreisausschuss.

Hinzu kämen immer mehr familiäre Probleme. Medienmissbrauch, Schulangst, Mobbing, die Trennung der Eltern, aber auch eine erhöhte Gewaltbereitschaft erfordere zunehmend Unterstützung bei der Bewältigung dieser Probleme.

Allein an der Realschule Holzkirchen habe man vom Suizid bis hin zu familiären Sorgen 87 Fälle innerhalb von drei Monaten gehabt. „Das ist kein Pappenstiel.“ Vor allem aber könne man es sich nicht leisten, dass Schüler die Schule abbrechen, so Fischer. An dieser Stelle würde aber die Regelschule kapitulieren.

Viele Trennungs- und Scheidungskinder

Ob denn ein Schulpsychologe nicht sinnvoller sei als ein Sozialarbeiter, hakte Martin Walch (SPD) nach. „Wir brauchen keine Therapie, sondern Betreuung“, entgegnete der Gmunder Realschulleiter Tobias Schreiner. Er habe an seiner Schule zahlreiche Fälle, wo Kinder aufgrund von familiären Schwierigkeiten oder Krisenerfahrungen intensive Betreuung bräuchten.

Ein Viertel der Schüler seien Trennungs- oder Scheidungskinder. Auch Familienvater Robert Wiechmann (Bündnis 90/Grüne) war dafür, dass mehr getan werden muss. „Wenn die Schulleiter sagen, es ist Bedarf da, dann sollten wir auch reagieren.“

Warum reagiert das Kultusministerium nicht?

Das sah Josef Lechner (CSU) ganz und gar nicht so. Er wunderte sich, warum sich das Kultusministerium denn weigere, die finanziellen Mittel dafür locker zu machen, wenn es doch scheinbar allen Schulen so gehe. Und solange er die genauen Zahlen aus dem Haushalt nicht vorliegen habe, werde er einer solchen Summe auch nicht zustimmen.

Tobias Schreiner erklärte ihm, dass man seit Jahren versuche, dem Kultusministerium auf die Füße zu treten, stoße aber auf taube Ohren. Dennoch werden diese Stellen dringend benötigt. Die Lehrkräfte bräuchten einfach Unterstützung und seien mit dem ihnen auferlegten Erziehungsauftrag überfordert.

„Muss das sein?“

Norbert Kerkel (FWG) zeigte Verständnis für die geänderten Rahmenbedingungen an den Schulen: „Sicherlich müssen die Schulen von heute mehr leisten, deshalb sei die Forderung bestimmt gerechtfertigt.“ Dennoch könne der Landkreis diese Summe nicht auf Dauer aufbringen. Für ein Jahr könne er allerdings zustimmen. Gleichzeitig appellierte er an die Schulen, den Druck nach oben zu erhöhen.

Muss das sein“, wollte Martin Walch noch einmal wissen. Schließlich entscheide man über eine erhebliche Summe. Kämmerer Gerhard de Biasio beruhigte: „Der Haushalt ist ausgeglichen, auch wenn 370.000 Euro drin stehen.“ Wo es wehtun werde seien die Baumaßnahmen, wo die ein oder andere eventuell mit eigenen Mitteln nicht mehr möglich sein werde.

Haushalt leidet

Kreuths Bürgermeister Josef Bierschneider war dafür, die Summe grundsätzlich zu befürworten, aber letztendlich den Kreistag entscheiden zu lassen. Das entsprach auch der Vorstellung von Ingrid Pongratz: „Zum jetzigen Zeitpunkt kennen wir den Haushalt nicht. So würde der Haushalt mit einfließen, wenn er auf dem Tisch liegt.“

De Biasio erklärte, dass der Kreisausschuss für diese Entscheidung zuständig sei. Und auch Paul Fertl (SPD) war der Meinung, dass es falsch sei, mit „einem halben Ja hier rauszugehen“. Er sei fürs Geldausgaben, wenn die Ausgabe sinnvoll sei. Und darin sei man sich ja einig. Schließlich wolle der Landkreis die Kinder doch auffangen.

Landkreis springt für Freistaat ein

Josef Lechner gab sich damit nicht zufrieden: „Jetzt hat das Kultusministerium doch genau das erreicht – dass wir für den Freistaat in die Bresche springen.“ Unter keinen Umständen wolle er entscheiden, bevor nicht der Haushalt auf dem Tisch liegt. Es dürfe nicht sein, dass die 370.000 Euro bindend sind. „Das möchte ich nicht haben.“ Die Freiheit, dass andere Dinge wichtiger sind, müsse bleiben.

So schlimm schaue es im Haushalt nun auch wieder nicht aus, entgegnete Landrat Rzehak, versprach aber, beim Kultusministerium nachzuhaken, warum die finanzielle Unterstützung bislang ausgeblieben ist. Bis auf Ingrid Pongratz und Josef Lechner stimmten alle Kreisausschuss-Mitglieder für die Bereitstellung des Geldes. Wie es 2020 mit der finanziellen Unterstützung ausschaut, ist derzeit noch offen.

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