Am 26. Mai dieses Jahres beschloss eine 56-jährige Gmunderin, noch schnell nach der Arbeit beim Lidl in Holzkirchen einkaufen zu gehen. Als sie gegen 14 Uhr auf den Parkplatz des Discounters abbiegen wollte, erblickte sie in der Einfahrt – in einem Cabrio sitzend – einen Mann, der keine Arme mehr besaß.
Sie sei davon so abgelenkt gewesen, erklärte sie gestern vor dem Miesbacher Amtsgericht, dass sie die Autofahrerin übersehen hatte, die plötzlich unmittelbar vor ihr stand. Erschrocken habe sie das Lenkrad herumgerissen und sei einfach nach links auf den Parkplatz eingebogen.
Es knallt und sie geht einkaufen
„Mir haben die Knie gezittert, und mir war richtig schlecht“, so die 56-Jährige zu Richter Walter Leitner. Erst im Lidl habe sie sich wieder „sammeln“ können. Was sie in ihrer Schocksituation nicht bemerkt hatte, sei der laute Knall gewesen, den sie zur gleichen Zeit hinter sich ausgelöst hatte.
Denn während sie einparkte und einkaufen ging, hatte die Frau des anderen Autos wegen ihr in den Gegenverkehr ausweichen müssen. Deren Opel stieß frontal mit einem Audi Roadster zusammen. Als die Gmunderin nach etwa 15 Minuten den Disounter wieder verließ, sei die Polizei schon zur Stelle gewesen.
Der Schreck fuhr ihr bis ins Ohr
Dass sie durch ihr Verhalten einen Unfall verursacht hatte, ging unbemerkt an ihr vorüber. Wegen Unfallflucht musste sie sich nun vor Gericht verantworten. Ob sie denn den Knall nicht gehört habe, wollte Richter Walter Leitner gestern Morgen von der Angeklagten wissen. „Nein, das habe ich nicht wahrgenommen“, so ihre Antwort.
Leitner ließ nicht locker. „Haben Sie schon beim Lidl gemerkt, Sie hören nix mehr?“ Sie habe durch den Schreck wirklich nichts mehr gehört, beteuerte die Angeklagte. „Ich war total neben mir gestanden.“ Ob ihre Ohren jetzt wieder in Ordnung seien, hakte der Richter noch einmal nach. Die Angeklagte nickte.
Wer Fahrerflucht begehen will, geht nicht zum Einkaufen
Als Zeugen traten die Unfallbeteiligten sowie der Mann aus dem Cabrio auf, der den Unfall beobachtet hatte. Die Höhe des durch den Unfall entstandenen Schadens bezifferte der Staatsanwaltschaft auf knapp 27.000 Euro. Alle Zeugen waren sich darin einig, dass die Angeklagte den Unfall nicht wahrgenommen hatte. „Sie war total durcheinander“, sagt der 35-jährige Fahrer des Audi Roadster.
Böse Absichten unterstelle er ihr deshalb nicht. Wenn sie Fahrerflucht hätte begehen wollen, wäre sie nicht zum Einkaufen gegangen. „Das ergibt für mich keinen Sinn.“ Außerdem hätte es ihr „total leid getan“, und sie hätte sich bei allen Beteiligten entschuldigt. Als es schon fast so aussah, als würden die Zeugenaussagen zugunsten der Angeklagten ausfallen, fragte der Richter den jungen Fahrer, ob er denn durch den Zusammenprall verletzt worden sei.
Körperverletzung kommt zur Sprache
Drei Tage lang habe er einen steifen Nacken gehabt, den er mit insgesamt sechs Massagen und einer vierzehntägigen Krankschreibung wieder habe kurieren können. Das ließ den Staatsanwaltschaft aufhorchen: „Ach, von einer Körperverletzung wusste ich nichts.“
Der Anwalt der Angeklagten versuchte es anders: „Ich bin nicht gleich für Freispruch, aber man kann den Sachverhalt auf einen Punkt verkürzen: Muss man bei einem Schrecken zwingend ein lautes Kollisionsgeräusch hören?“ Die Schadenshöhe von insgesamt knapp 27.000 Euro sei seiner Meinung nach nicht entscheidend.
Staatsanwalt plädiert für Einstellung des Verfahrens
Dem widersprachen sowohl Staatsanwalt als auch Richter. Wenn es so scheppert, könne man nicht davon ausgehen, dass der Knall hätte überhört werden können, so der Staatsanwalt. Dennoch plädiere er dafür, die Angeklagte wegen „subjektiver Überforderung“ freizusprechen, unabhängig von der Körperverletzung.
Er wäre bereit, das Verfahren gegen eine Geldstrafe einzustellen. Gerade als der Anwalt noch etwas zur Verteidigung ansetzen wollte, unterbrach Richter Leitner: „Ich halte den Vorschlag für ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk, das Sie annehmen sollten.“ Einen Zusammenprall wie bei diesem Unfall hätte ein Tauber hören müssen, gab er zu Bedenken.
Werde das Verfahren fortgesetzt, müssten Gutachter zu Rate gezogen werden und „ich habe das Gefühl“, so Leitner, „das geht nicht gut für die Angeklagte aus.“ Folglich wurde das Verfahren gegen eine Geldstrafe in Höhe von 1.500 Euro an den „Frauen und Mädchennotruf“ in Rosenheim eingestellt.
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