2017 startete Korbinian Kohler in seinem Hotel Bachmair Weissach erstmals das „Korbinian Kolleg“. Weil es sich zur Herbst- und Winterzeit so gemütlich plauscht, holt sich der Hotelier einmal im Monat Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller zum Gedankenaustausch in seine Räumlichkeiten nach Kreuth.
Als Moderator fungiert der aus München stammende Philosoph und Autor Wilhelm Vossenkuhl. Mit ihm verbindet Kohler eine enge Freundschaft. Kohler selbst war Vossenkuhls Student an der Universität München, als beide das Konzept zum Kolleg entwickelten. Ihn beschreibt er als einen humorvollen, bodenständigen Menschen mit einer „unglaublichen Tiefe“. Als jemanden, der „die Welt besser macht“.
Ein Moderator, wechselnde Gesprächspartner
Das Bedürfnis nach „aufrichtigem Wissen“, nach der Wahrheit, nach Gesprächen auf höchstem Niveau, sei das Ziel der beiden gewesen, so Kohler. Ohne „kommerziellen Hintergrund“. Weshalb auch jeder kostenlos teilnehmen kann. Stets wechseln die Referenten, aber die Fragen der Zeit bleiben. Immer mit einem nachdenklichen, kritischen Ansatz.
Auf Kohlers Hotelcouch saßen im vergangenen Jahr der Wirtschaftsanwalt und Philosoph Julian Roberts sowie der Neurobiologe Benedikt Politycki. Ebenso wie die Fotokünstlerin Herlinde Koelb oder der bekannte Astrophysiker Professor Harald Lesch. Am vergangenen Freitag saßen in Kohlers Hotellobby der Hotelier selbst, Gastredner Maurice Philip Remy und Wilhelm Vossenkuhl. Mit den beiden haben wir uns davor unterhalten.
Tegernseer Stimme: Herr Vossenkuhl, sie waren Professor der Philosophie an der Uni München. Ihre Lehren haben Sie in einem Buch mit dem Titel “Philosophie für die Westentasche” zusammengefasst. Welches sind denn die wichtigen Fragen unserer Zeit?
Wilhelm Vossenkuhl: Das Buch enthält eher die „Philosophie Basics“, wie beispielsweise: Wer bin ich? Wer sind wir? Was ist Zeit? Was ist Freiheit? Diese Fragen werden auf eher lustige Art und Weise beantwortet. Aktuell beschäftige ich mich mit der Frage: Warum gilt etwas? Wer hat beispielsweise den Wert des Geldes festgelegt? Warum halten Menschen an Dingen fest?
Und warum tun sie das?
Vossenkuhl: Die meisten haben keine Begründung. Es ist eine Geltungsfrage.
Wo wir Sie gerade als Experten der Weisheit hier sitzen haben: Was ist denn der Sinn des Lebens?
Vossenkuhl (lacht): Wenn ich das wüsste. Wenn es um den UnSinn geht, bin ich auskunftsbereiter.
Diogenes von Sinope war ein griechischer Philosoph, der in der Tonne lebte. Wo steht denn Ihre Tonne – oder sind Sie nicht ganz so bedürfnislos?
Vossenkuhl: Was für mich zählt, ist Freundschaft. Und Freunde kann ich auch in der Tonne empfangen (lacht). Anonsten bin ich ein leidenschaftlicher Lehrer…
Früher beantworteten Philosophen die Fragen der Zeit, heute ist es Google. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Vossenkuhl: Ehrlich gesagt waren Philosophen nie so gefragt.
Und wo sehen Sie die Welt in 100 Jahren?
Vossenkuhl: Ich gebe nicht gerne Auskunft über die Probleme der Zeit. Denn die Antworten sind nicht das, was die Menschen hören wollen. Wir leben in einer Zeit, in der Geld und Produkte mehr zählen als Menschenrechte. Überall ist der Faschismus am Wachsen. Reden wir über den Fall Gurlitt. Ein großer Skandal. Und ein Stück Zeitgeschichte, das den Nationalsozialmus dokumentiert. Diese Zeit muss man sich in Erinnerung rufen. Die Menschen sind kurzlebig. Heute reden sie über Herpes, morgen über Aids. Über Herpes redet dann keiner mehr.
Gut. Reden wir über den Fall Gurlitt. Herr Remy, Sie zählen zu den erfolgreichsten Dokumentarfilmern Europas. Welches Erlebnis oder welche Erkenntnisse haben Sie am meisten geprägt? Was hat Sie „weise“ werden lassen?
Maurice Philip Remy: Eines vorweg: Ich bin nicht der erfolgreichste Dokumentarfilmer Europas. Ich bin ein solider Sachbuchautor. Und ich bin nicht weise. Meine wichtigste Arbeit war die mit Guido Knopp zur sechsteiligen TV-Serie über den „Holocaust“. Für die Serie habe ich mehrere Jahre mit Zeitzeugen und Tätern gesprochen und mit internationalen Experten zusammengearbeitet. Ich habe alles zu dem Thema gelesen. Das alles hat mich erschüttert.
Warum greifen Sie vorrangig Themen auf, die mit dem Nationalsozialismus zu tun haben?
Remy: Das war reiner Zufall. Ich bin in die Thematik über die Arbeit zu meinem Dokumentarfilm „Das Bernsteinzimmer“ reingerutscht.
Sie haben als freier Journalist unter anderem für den „Stern“ und „Die Zeit“ geschrieben. Die gefälschten Hitlertagebücher haben Sie ebenfalls verfilmt. Für wen haben Sie mehr Verständnis – die Fälscher oder – ich nenne es mal – die „Gier der Journalisten“?
Remy: Ich denke mal, man hätte vor Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher herausfinden können, dass sie gefälscht sind. Was mich wundert: Stern-Reporter Gerd Heidemann hat eine größere Strafe als Fälscher Konrad Kujau bekommen. (Anm. d. Red.: Heidemann wurde zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt, Kujau zu vier Jahren und sechs Monaten).
Kommen wir auf das heutige Thema zu sprechen. In Ihrem Buch „Der Fall Gurlitt“ beschreiben Sie die Hintergründe zu Deutschlands größtem Kunstskandal. Man hat Ihnen vorgeworfen, Partei für einen Nazi-Kunsthändler zu ergreifen und im Film die wesentlichen Fragen im Umgang mit geraubter Kunst nicht beantwortet zu haben. Eine Kritik, die berechtigt ist?
Remy: Ich bin Journalist. Ich beschreibe eine Sache so, wie sie ist. Der Kunstfund bei Gurlitt war kein „Nazi-Schatz“, wie der Focus im November 2013 behauptet hat. Die Geschichte hat mir Recht gegeben. Von den 1566 beschlagnahmten Bildern waren nicht mehr als ein halbes Dutzend Raubkunst. Was Raubkunst ist, werde ich gleich in meinem Vortrag erläutern. Seit den Hitlertagebüchern gab es keinen so großen Fall.
Und dann war es soweit. Im voll besetzten Seminarraum begrüßte Kohler seine Gäste. Der „Durst nach Wahrheit“ sei der Antrieb für diese Veranstaltungsreihe, erklärte er den Anwesenden. Moderator Wilhelm Vossenkuhl stellte gleich zum Start die Kernfrage des Abends: „Was ist (unsere) Geschichte?“ Geschichte sei immer Gegenwart, machte Vossenkuhl selber deutlich und betonte:
Wir müssen uns gemeinsam erinnern, sonst ist es nicht unsere Geschichte.
Zu dieser Erinnerung trage auch der Dokumentarfilmer und Autor Maurice Philip Remy bei. Remy erzählt in seinem Buch eine Geschichte, die den vor vier Jahren verstorbenen Kunstsammler Cornelius Gurlitt in einem anderen Licht erscheinen lässt, und die aus Remys Sicht verschiedene Fragen aufwirft.
Hatte die Staatsanwaltschaft im Jahr 2012 die bedeutenden Werke von Gurlitt zu Unrecht beschlagnahmt? Hatte sich der Kunsthändler wirklich schuldig gemacht, weil er Bilder besaß, die von der Öffentlichkeit als „Nazischatz“ stigmatisiert worden waren?
Ein Versagen des Rechtsstaats?
Der Autor, der vier Jahre lang recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen hat, sieht Gurlitt dann auch eher als Opfer denn als Täter und spricht von einem „bayerischen Justiz-Skandal erster Güte“. Sowohl in seinem 52-minütigem Film als auch in seinem Buch zeigt Remy die Grenzen von Recht und Moral auf und wirft sowohl den Medien als auch dem Staat Versagen vor.
Zu keinem Zeitpunkt habe es eine Rechtsgrundlage gegeben, Gurlitts Bilder aus dessen Schwabinger Wohnung zu beschlagnahmen, davon ist Remy überzeugt. Lediglich bei fünf der insgesamt 1566 Werke habe sich der Verdacht der NS-Raubkunst bestätigt. Remy gewährte den Zuhörern Einblicke, welche Schlüsselrolle Gurlitts Vater Hildebrand – selbst Kunsthändler – bei diesem Skandal inne hatte.
Er stellte den Unterschied zwischen Raubkunst und entarteter Kunst heraus und betonte, dass Käufer solcher Kunstwerke keine Mittäter sind. Remy ist überzeugt: Im Fall Gurlitt hat man einen alten, gebrechlichen und herzkranken Mann „zu Tode gehetzt“.
In der anschließenden Fragerunde wollte ein Zuschauer wissen, warum denn der politische Druck aus dem Ausland so gering gewesen sei? Remy überlegte kurz und erklärte, dies sei ein „vielschichtiges Problem“. Im Ausland sei der Eindruck eines „riesigen Raubkunst-Schatzes“ vermittelt worden. Diese Unehrlichkeit gelte es aufzuklären. Hier sei die Aufarbeitung mit der Vergangenheit noch nicht gut gelaufen.
In den Geldbeutel greifen mussten die Zuhörer erst im Anschluss. Wer mit Remy weiter diskutieren wollte, konnte das bei einem exklusiven Menü tun. Als die Zuhörer den Raum verließen, hallten die Stimmen der Gegenwart die Treppenstufen hinab: „Was für eine unglaubliche Recherche“. „Wie unfair die Presse war“. „Toll, dass Remy die Menschen für dieses Thema sensibilisiert“.
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