Die Bärin hat die Hunde zu spät erkannt. Der Schäfer, ein Bauer aus Lenggries, hatte sie über Monate von einem Experten genau auf diese Situationen trainieren lassen.
Zwei Maremmen-Abruzzen-Schäferhunde, fast 90 Zentimeter hoch und 55 Kilo schwer, haben die Bärin und ihren Nachwuchs gestellt, umkreisen die beiden, bellen, fletschen die Zähne und knurren. Hirten bevorzugen immer weiße Hunde. Bei einem Angriff von Wölfen kann das Tier nicht versehentlich erschossen werden. Ihr Fell ist wellig und lang. Der Kopf, der mit einer Mähne am Hals an einen Bären erinnert, verfügt über anliegende, hängende Ohren. Die beiden Hunde sind mit der Herde aufgewachsen, sehen es als ihr Rudel an.
Die Bärin legt ihre Ohren nach hinten, Nackenhaare erheben sich. Ein dumpfes Knurren rollt aus ihrem Leib. Speichel läuft an ihren Lefzen hinab. Der massige Kopf der Bärin wiegt hin und her. Aber die Hunde weichen nicht zurück.
Der Jüngere springt immer wieder nach vorn, sodass die Bärin ihn immer wieder mit wirklosen Tatzenhieben zurückweisen muss. Das nutzt der zweite, greift von der hinteren Seite an, verbeißt sich mit seinen Zähnen in die Flanke des Bären. Erfüllt von einem übermächtigen Schmerz fegt die Bärin herum, schüttelt mit letzter Kraft den Hund von ihrem Leib. Der stolpert, rollt und will sich schnell wieder aufrappeln, aber mit einer Pfote gerät er in den Eingang einer Murmeltierhöhe. Die Bärin kannte keine Gnade. Sie will sich über den Hund hermachen, aber als sie sieht, wie der jüngere Hund wenige Meter entfernt seine Zähne im Fell der Kleinen verkeilt hat, walzt sie den Hang wieder hoch. Auch der Schäferhund weicht vom Bärenkind ab, bellt aber die Bärin an.
Es ist der Schmerz in ihrer Flanke, der sie von einem weiteren Angriff abhält. Im abnehmenden Mondlicht verlässt sie mit ihrem humpelnden Bärenkind das Plateau. Immer wieder muss die Bärin stoppen, weil die Kleine erschöpft erst stehenbleibt, dann zur Seite rollt. Der Instinkt der Bärin lässt sie nach einer von Menschen weit entfernten, abgelegenen Stelle suchen, wo sich die beiden ausruhen können. Schon jetzt nimmt sie immer wieder Witterung auf, Duftspuren von Menschen und Autos dringen in ihr Riechsystem.
Im Morgengrauen passieren sie das Hochmoor an der Schwarzentenn-Alm. Der Kadaver eines Fuchses, vom Hund eines Wanderers in das schlammige Wasser gescheucht, wird von der Bärin herausgezogen und mit der Kleinen geteilt. Die ersten Sonnenstrahlen tauchen über den Hirschberg auf, als die Bärin auf der anderen Seite des Sattels einem steilen Bachlauf folgt.
Bären sehen nicht sehr gut, können dafür aber extrem gut riechen. Der Geruchssinn des Bären ist 100.000-mal besser als der des Menschen. Obwohl steil hinauflaufend, schnüffelt sie mit gesenkter Nase über den Boden. Sie kann Nahrung auf viele Kilometer ausfindig machen, und hier irgendwo liegt etwas Süßes. Aber das Kleine ist kaum mehr in der Lage, weiterzuziehen, jammert und fiept.
Den ganzen Tag verbringen sie in einer Erdmulde unter Fichtenästen. Die Mutter leckt die klaffende, aber bald nicht mehr blutende Wunde der Kleinen, die anfangs noch vor Schmerz leise klagt, aber dann einschläft. Ihr eigener Schmerz lässt jedoch nicht nach, auch wenn sie für wenig Momente ebenfalls wegdämmern kann und die Hitze des Tags verschläft. Am späten Nachmittag wird der Geruch, den sie am frühen Morgen schon aufgenommen hatte, stärker. Sie stupst die Kleine an, drängt sich aus der Mulde und wandert, immer wieder vorsichtig sich umblickend, weiter der Spur nach. Da ist die Hütte.
Vorsichtig nähert sie sich und wird fündig. Wochenendbesucher hatten ihre Nahrungsreste in eine Plastiktonne verschlossen. Aber das ist für das Raubtier mittlerweile ein Kinderspiel, mit mehreren Hieben ihrer Pranken reißt sie das Plastik auf, zerrt den Inhalt heraus und sieht sich nach ihrer Kleinen um, die sich sofort nähert und ihre Nase in den Müll steckt. Hier ist Wasser, ein Trog. Während die Kleine noch weiter in den Resten nach Essbaren sucht, besteigt die Mutter den Trog und legt Teile des massiven Körpers hinein, um den Schmerz von der Flanke abzukühlen. Für einen Moment hilft es. Aber kaum ist sie wieder bei der kleinen Bärin, kehrt der Schmerz noch stärker zurück. Wenn die Nacht käme, würde sie dennoch weiterlaufen. Aber vorher muss die Kleine noch zum Trog geführt werden.
Plötzlich vernimmt sie ein vertrautes, für sie gefährliches Geräusch. Ein Quietschen nähert sich der Hütte. Noch war es oberhalb, kam vom Sattel unterhalb des Hirschbergs. Die Bärin hält inne, scharrt aus schierer Nervosität mit ihren Tatzen im Kies, der vor der Hütte liegt. Immer näher kommt das Geräusch. Sofort sucht sie den Schutz des angrenzenden Walds. Nur die kleine Bärin, vom Wasser des Trogs angezogen, bleibt vor der Hütte stehen und stemmt ihren kleinen Körper gegen das Holz des Behälters.
Es ist ein Mountainbiker, der vermutlich von den beiden Tieren nichts wahrgenommen hätte, aber im Vorbeifahren aus dem Augenwinkel die kleine Bärin erkennt. Der Mann bremst scharf, greift nach seinem Smartphone. Er will die live Funktion des Instagram-Kontos nutzen. Seinen Followern etwas bieten. Klackernd geht er in n seinen Fahrradschuhen näher an die Hütte, um das Kleine besser fotografieren zu können. Ein Fehler. Die Bärin, sonst immer mit Scheinangriffen Gegner verscheuchend, lässt dem Menschen keine Chance. Fauchend bricht sie aus dem Wald hervor, setzt zu einem kleinen Sprung an und verbeißt sich sofort in den oberen Teil des Kopfes. Das Plastik des Helms wird zermalmt, hält aber die Zähne der Bärin noch ab, in den Kopf zu dringen. Das Tier fällt mit dem Mann über das Rad.
Hilflos sucht der Mann Halt, schlägt gegen den Leib des Tiers, ehe das Gebiss der Bärin in seinen Nacken fasst. Mit der linken Tatze skalpiert die Bärin den Mann. Dann hebt sie die mächtige rechte Pranke und zerschmettert die Wirbelsäule, noch ehe der Mann schreien kann. Kein Schmerz, nur Entsetzen ist in seinem Ausdruck zu erkennen. Noch mehrere Sekunden zucken die rasierten Beine des Radlers. Die Bärin zieht den toten Leib mit wenig Mühe in den Wald hinter der Hütte, eine rote Spur im Kies des Wegs hinterlassend.
Unschlüssig, ob sie weiterziehen soll, verharrt die Bärin, leckt eher beiläufig die klaffenden Wunden am Körper des Mannes. Wieder vernimmt sie aus der Ferne ein Geräusch. Ein Schnaufen. Es kommt näher. Die Bärin sieht zwischen den Fichten einen Menschen, der stehenbleibt, seinen Kopf in den Trog legt.
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