Die Bärin hat sich davongemacht. War es der Schmerz an der Flanke, oder will sie ihr Kleines einfach aus der Gefahrenzone bringen? Sie bemerkt den Verlust des Kleinen ungewöhnlich spät.
Vielleicht ist die zunehmende Selbständigkeit der Kleinen in den letzten Wochen der Faktor, der die Mutter jetzt erst erkennen lässt, dass die Kleine verschwunden ist. Nach wenigen Metern im abfallenden Bergwald hat sie keine Witterung mehr aufnehmen können. Wieder und wieder dreht sie sich um sich, um ein Partikel des Dufts ihres Nachwuchses aufzunehmen. Aber da ist nichts. Die einbrechende Dunkelheit ist der Bärin egal. Sie riecht wesentlich besser, als sie sehen konnte. Der Abendwind kommt jetzt aus dem Westen, trägt etwas zu ihr. Die Bärin bläst ihre Nüstern auf, erhebt sich. Sekundenlang verharrt sie. Dann folgt sie diesem Geruch. Erst wenige Meter vor der Hütte hört sie das Klagen. Ohne sich zu nach allen Seiten zu vergewissern, ob da ein Feind lauern könnte, rennt sie auf die Hütte, vernimmt ihr Kleines jetzt deutlicher, springt auf die Veranda, verharrt kurz, stellt sich auf die Hinterläufe, hebt die Nase empor, um mehr von den Geruchspartikeln aufzunehmen und lässt tief aus ihrem Inneren ein infernalisches Gebrüll herausbrechen. Erst dann wirft sie ihr ganzes Gewicht gegen die Tür.
Das Kleine hat sich in der kleinen Küche unter einem Stuhl versteckt und jammert gottserbärmlich. Erst ein langgezogenes Klagen, dann ein abruptes Ende. Sie versucht das Tier zu beruhigen, wirft ein Stück Brot, dass auf dem Tisch noch gelegen hatte, in die Richtung. Aber die kleine Bärin schüttelt sich nur, dreht sich im Kreis und jammert weiter. Die Frau gibt auf, liegt auf den rohen Holzplanken der Hütte und hört zwischen den Jammer-Attacken der kleinen Bärin in die Stille. Nichts. Draußen liegt ihr Telefon. Und draußen, unten irgendwo im Tal, wartet ihr Kind auf sie. Sie kann sehen, wie die Augen ihrer Tochter sich öffnen, wie sie suchend in ihrem Zimmer umherwandern. Auf die Hand der Mutter wartend. Das ist ihr Ritual vor dem Einschlafen. Ihre Hand auf die Brust ihrer Tochter, den Herzschlag fühlend, dabei leise summend. Bis sie schläft. Bis die Tochter ihr Leben vergessen kann. Bis zum nächsten Morgen in Frieden schläft.
Die Frau schließt die Augen. Ihre Kraft und Anspannung scheinen in diesem Moment aus ihr herauszulaufen. Langsam sackt sie vollends auf ihren Rücken, sieht an die Holzdecke und will sich zu der Tochter träumen. Hinaus aus dieser Falle, über die Wälder und hinab in das Tal des Tegernsees. Stille. Ein Specht keckert draußen im Flug. Ein Windstoß lässt eine Fensterlade gegen die Wand schlagen. Dann wieder Stille.
Der Krach ist ohrenbetäubend. Die Bärin muss sich mit großer Wucht gegen diese Holztür geworfen haben. Oben schlägt das Scharnier aus der Seite. Der Tisch, von der Tür getroffen, schob sich in die Richtung der Mutter. Kreischend drehte sich die Frau liegend Richtung Tür, presste ihre Füße gegen den Tisch. Aber sofort riecht sie aus dem Spalt, den die Bärin aufgedrückt hatte, das Tier. Jetzt grollt es aus dem Maul der Bärin, einer grausamen Drohung gleich. Hätte die Frau die Reißzähne gesehen, sie hätte sich nur noch zusammengerollt. So aber versperrt noch die Tür die Sicht. Noch.
Das Bärenkleine hoppelt jetzt an ihr vorbei. Jault und schreit. Der nächste Schlag. Die Wucht trifft die Tür, den Tisch und dann ihre Beine. Sie wird einen halben Meter nach hinten geworfen. Das obere Drittel der Tür zerbirst unter den mächtigen Schlägen mit den Vordertatzen. Wie eine Fräse verschafft sich die Bärin ein immer größer werdendes Loch, das Maul dringt durch das Maul. Ein lautes Gebrüll füllt den Raum.
Die Frau sucht verzweifelt nach Gegenständen, mit der sie sich verteidigen kann. Aber alles ist in dieser Hütte entweder gut verstaut oder eignet sich nicht zum Kampf mit einem über zweihundert Kilo schweren Bären. Für einen Moment ist der riesige Fellkopf des Tiers aus dem Loch der Tür verschwunden. Die Frau nutzt die Pause, um hinter einen alten Vorhang zu greifen, der eine Abseite unter dem Waschbecken verdeckte. Sie will irgendetwas Brauchbares in der Hand halten, wenn das Tier im Raum steht. Tastet in die Dunkelheit, fühlt Metallisches, will es herausziehen. Da kommt der Schlag. Die Bärin hat mit einer letzten großen Attacke gegen die Tür den dahinter liegenden Tisch weggestoßen. Die Kante trifft den Kopf der Frau. Der Schmerz ist überwältigend. Sie verliert für einen kurzen Moment das Bewusstsein.
Als sie wieder die Augen öffnet, ist das Tier über sie.
Sie sieht die Reißzähne oben und unten. Den Schlund. Geiferfäden tropfen aus dem Maul. Dahinter nur Fell. Sie fühlt das Metall in ihrer Hand. Aber es steckt fest, lässt sich nur drehen, nicht aber herausziehen. Sie kann den Blick nicht vom Tier lassen. Es sitzt auf dem Tisch, erhebt sich immer wieder leicht wackelnd, um noch größer zu wirken, stößt mit dem Kopf sogar gegen die Hüttendecke und brüllt. Vor Entsetzen reißt sie mit aller Kraft an dem Metall, löst es endlich. Langsam zieht sie den Gegenstand zu sich heran. Erst im letzten Moment erkennt sie, was es ist.
Sie hält eine Klobürste in der Hand. Sie ist kaum länger als ihr Unterarm, mit Rost überzogen. Sinnlos, denkt sie. Denkt, wie es sein wird, wenn das Tier auf sie fällt, wie es sich in sie verbeißt. Sie denkt. An den Tod. An ihre Tochter. Und das ist der Auslöser.
Mit einem Ruck schiebt sie sich nach hinten, ist auf den Beinen und schreit gegen das Gebrüll an. Aus vollem Leib. Breitet aus schierer Wut, bald sterben zu müssen, ihre Arme aus und brüllt. Sie wirft die Klobürste nach dem Tier, trifft aber nur eine Vordertatze. Die Bärin blickt sich um. Ist sie verwirrt? Sucht sie ihren Nachwuchs? Aber nach endlosem Schnaufen, fixiert das Tier noch einmal die Frau, die nicht einen Zentimeter zurückwich, und dann, endlich, dann dreht sich die Bärin um die Achse auf dem Tisch, reckt ihren Hals zum Boden. Dort sitzt die Kleine. Mit einem zarten Biss in den Nacken hebt die Bärin es zu sich auf den Tisch, stupst es dann an. Das Kleine tapst durch das Loch in der Tür hinaus in das Dunkle der Nacht. Kurz darauf zwängt sich die große Bärin durch die zerstörte Tür, die lose in ihren Angeln hing, in die Nacht hinaus.
Als gegen Mitternacht der Hubschrauber der Bergrettung sie hinauf in den Nachthimmel trägt, glaubt die Frau bei einer Drehung über einem freien Waldstück die Bärin erkennen zu können. Aber schon als sie sich erneut dorthin dreht, ist da nichts mehr, das Tier verschwunden.
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