Wir haben Februar. Adventskalender gehören nicht in diesen Monat. Dennoch kam mein langjähriger Freund Sebastian mit einem Adventskalender unterm Arm zu unserem Frühstück. So einer, bei dem hinter jeder Tür eine kleine Schokoladenfigur steckt.
„Der Adventskalender ist für meinen Sohn“, sagte Sebastian. Der Sohn, obwohl 25-jährig, bekomme jedes Jahr von ihm einen solchen Kalender. Familientradition eben. Diesmal erhalte er ihn etwas später, da er das letzte halbe Jahr aus geschäftlichen Gründen in Brasilien weilte.
Pralinenschachtel auf langer Mission
Mir fiel die Geschichte von Ephraim Kishon ein, der eine Pralinenschachtel geschenkt bekam. Als er sie öffnete fand er grün verschimmelte Pralinen vor. Er forschte nach, woher die Schachtel kam und stellte fest, dass er sie selbst vor vielen Jahren einer Tante geschenkt hatte, die diese dann offensichtlich an jemanden weiterverschenkt hatte und so muss sie dann wohl immer als Geschenk weitergereicht über Jahrzehnte auf Reisen gewesen sein, bis sie als Geschenk wieder bei Ephraim Kishon, dem einstigen Schenker, landete. „Schokolade auf Reisen“ heißt die Geschichte.
Oh, so eine Geschichte kenne ich auch von einer Flasche Wein, sagt André, ebenfalls ein Freund, der inzwischen eingetroffen war. Ungenießbar der Wein, nachdem er mehr als zwanzig Jahre von Geburtstag zu Geburtstag von Freund zu Freund gewandert war.
Ein Wein, der das 20. Jahrhundert überdauert
„Ich kenne eine Geschichte von einem Wein, der mehr als hundert Jahre Weltgeschichte überdauerte und heute zu den besten und teuersten gehört“, sagte Andrés Frau Sylvia, die sie sofort zum Besten gab. Es handelte sich um den Muscat White Livadia, Jahrgang 1905, der Lieblingswein des letzten russischen Zaren, Nicolaus II.
Während die Zarenfamilie während der Novemberrevolution von 1917 auf Befehl der Revolutionsführer exekutiert wurde, überlebte der Lieblingswein des Zaren im Weingut Massandra auf der Insel Krim nicht nur die Novemberrevolution, sondern auch den zweiten Weltkrieg, den Stalinismus, die kommunistische Herrschaft, nicht aber Glasnost und Perestroika und Michael Gorbatschow. Ende der 80er Jahre erwarb Sotheby’s die Weine, degustierte sie und vergab Bestnoten. Eine Flasche kostet heute 3825 Euro.
Viele Geschichten rankten sich um den über 100 Jahre alten Zarenwein und wir waren längst weg von Adventskalendern, weitergereichten Geschenken und bei der Geschichte vom Lachs angelangt, den Umberto Ecco auf einer seiner Lesereisen geschenkt bekam und der ihn wiederum in abstruse Geschichten verwickelte.
Von unserem Haus aus konnten wir auf den langsam zufrierenden Tegernsee blicken. Minus 15 Grad, die eiskalte Luft stand in der Landschaft wie eine Wand. Viele Geschichten hatten wir uns erzählt, wie einst die sieben Frauen und drei Männer, die im Jahre 1348 aus Florenz flüchteten, weil dort die Pest herrschte, und sich in zehn Tagen und Nächten hundert Novellen erzählten. Soweit kamen wir nicht. Denn es klingelte.
Lieber verschimmelt als eingeschmolzen
Sebastians Sohn Marcus gesellte sich zu unserer Runde, feierte das Wiedersehen mit seinem Vater, der ihn sofort den Adventskalender in die Hand drückte: „Oh, sagte Marcus: Den hebe ich auf für das kommende Weihnachten.“ Wir sahen uns alle bedeutungsvoll an: Möglicherweise ging dieser Adventskalender nun in einen Kreislauf von Geschichten ein, die Generationen nach uns noch erzählt würden, nämlich dann wenn eben dieser mit Schokoladenfiguren gefüllte Adventskalender eines Tages in den Händen einer der künftigen Enkel- oder Urenkelkinder von Sebastian landete.
Na, denn: Lieber verschimmelt und Gegenstand von Geschichten, als eingeschmolzen und als Schokoladenosterhase im Frühjahr auferstanden, wie dies mit nicht verkauften Schokoladenweihnachtsmännern übliche Praxis sein soll.
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