Allein mit Adrijan

Das Tegernseer Tal gilt als reich. Es ist Heimat jener, die es geschafft haben, und jener, die von den Geldigen profitieren. Und irgendwo dazwischen sitzen die Gestrauchelten. Manchmal findet man sie sofort. Und manchmal passiert es, dass man das Gegenteil sucht, aber der Zufall “Der rosarote Panther” spielt.

Ein junger Mann und zwei Frauen: Der 14-Jährige Adrijan Kostic (Mitte) ist der ganze Stolz von Oma (links) und Mutter.

Zur Serie “Die im Schatten”:
Das Tegernseer Tal gilt als reich. Es ist Heimat jener, die es geschafft haben, und jener, die von den Geldigen profitieren. Und irgendwo dazwischen sitzen die Anderen – im Schatten. Sie schreiben wir ins Licht.

Ich fahre nach Rottach-Egern, um einen der Geldigen am Tegernsee aufzuspüren. Doch was ich stattdessen finde, ist nicht der Bonze, sondern schlicht und ergreifend der rosarote Panther.

Ich hatte mich in der Tür geirrt. Doch der elektrische Türsummer signalisierte mir, einzutreten. Bis unter das Dach waren es vielleicht maximal 40 Treppenstufen. Die winzige Funzel, die den Gang nach oben mit etwas Licht erfüllte, reichte gerade aus, um die Augen von der Dunkelheit abzulenken, die gerade von außen hereinbrach. Es war schon spät, vielleicht viertel nach neun.

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Wie schon gesagt, ich hatte mich in der Tür geirrt. Sie öffnet sich. Eine Frau mittleren Alters bittet mich in ihre Wohnung. Ihr Haar ist zu einem Zopf zusammengebunden. Es zieht sich in glänzenden Strähnen über den ganzen Kopf. Vereinzelt wird die Kopfhaut sichtbar.

Aus der Küche riecht es nach Essen. Auf dem Wohnzimmertisch, der nicht in der Mitte des Raumes steht, sondern wie ein in die Ecke Gedrängter an die Wand gepresst, stehen leere Tassen, eine Handvoll Bananen, ein paar Kekse und einige Papierschnipsel.

Die Welt: Ein Junge

Ich werde nach vorne geschoben. „Bitte nehmen Sie Platz“, höre ich die Stimme hinter mir sagen, dann folgt ein ziemlich lautes „Adrijan!“. Aus dem Zimmer nebenan, keine zwei Meter entfernt, tritt ein mit grauem Hemd und dunkler Hose gekleideter, etwas schüchtern wirkender junger Mann.

„Mein ganzer Stolz“, sagt die 45-Jährige. Überrascht sei sie bei seiner Geburt gewesen. Eigentlich dachte sie, sie bekomme ein Mädchen. „Adrijan, spiel‘ doch mal was vor.“ Ohne Umschweife geht der Junge in sein Zimmer zurück. Keine zwei Sekunden später steht er wieder da: In den Händen hält er ein Saxophon.

Fast unbemerkt taucht plötzlich eine weitere Frau aus der Küche auf. Ihrem weißen Haar nach zu urteilen, das sie auf beiden Seiten mit Spangen festgemacht hat, muss sie um die 70 sein. Sie presst die Lippen zusammen und lächelt. Ihr Blick ist liebevoll, nur die tiefen Rillen auf ihrer Stirn, die sich wie eine Kette von unausgesprochenen Gedanken darauf schlängeln, haben etwas Schroffes. „Die Oma“, sagt Adrijan.

Der rosarote Panther – ein etwas andersfarbiger Diamant

Erwartungsvoll wird der 14-Jährige von den beiden Frauen begutachtet. Als der erste Ton das Blasinstrument verlässt, strahlen sie um die Wette. So als hätten sie ihr Leben lang auf diesen Augenblick gewartet. Drei Jahre lang haben sie in unregelmäßigen Abständen Geld beiseite gelegt. Mal 10 Euro. Mal 20 Euro. Mal mehr. Bis sie schließlich 1.400 Euro für das Saxophon beisammen hatten.

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Alle im Raum lauschen Adrijans Klängen. Es ertönt „Der rosarote Panther“. Ein Lied, das er nach jedem seiner Auftritte spielt, wie er sagt. Acht oder neun hatte der 14-Jährige davon schon in der Wiesseer Klinik am Alpenpark, zwei Solo-Auftritte im Rottacher Seeforum. Jetzt sollen die ganz großen Konzerte folgen.

Starthilfe hat Adrijan von der Münchner Roland Berger Stiftung bekommen. Einer Institution, die begabte Kinder mit „schwierigen Startbedingungen“ fördert. Also solche, deren Eltern wenig Geld haben. Das nötige Kleingeld fehlte auch Adrijans Mutter, als sie vor 20 Jahren an den Tegernsee kam. Ohne Mann.

Einsam zu dritt

Sie zieht ihren Sohn alleine groß, fängt in einer Hotelküche an zu arbeiten, landet bei Schlecker an der Kasse, bei Penny, beim Tengelmann, jobbt woanders und verliert ihre Anstellung wieder. Ihr Leben besteht aus einer ständigen Suche – nach einer gut bezahlten Aufgabe, etwas Glück, Ruhe, Zeit für sich. Der Einzug von Adrijans Oma aus Serbien war und ist ihr immerhin eine Hilfe. Gefunden hat sie sich in dem, was gerade vor ihr sitzt: Ein schlaksiges Bündel Mensch in grauem Hemd, das gerade die Backen aufbläst.

Jeder Cent steckt in ihm. Er wird gepflegt und behütet wie ein seltener Schatz. Eine Kostbarkeit, die selbst den Verzicht auf den so dringend benötigten Urlaub rechtfertigt. Eine, die die soziale Abschottung erträglich macht. In der man sich spiegeln kann, und die das Feedback ersetzt, das man selbst so dringend bräuchte. Der Schatz beruhigt. Er sichert den mit Stolz gepflasterten Weg in eine ungewisse Zukunft, auf dem man selbst ab und zu stolpert, zu Boden geht und die Orientierung verliert.

Wer hat an der Uhr gedreht?

Ungeplante Einschnitte bringen die kleine Familie in Not. Geplante auch. 850 Euro an Miete sind schließlich kein Pappenstiel. Ständig ist der Kopf mit irgendwelchen Dingen voll, während einem das Sozialamt im Nacken sitzt und „soviele Papiere verlangt“. Der letzte Ton verlässt das Saxophon. Ein paar in Plastikpapier eingewickelte serbische Kekse werden zum Tee nachgereicht.

Adrijan hat sein Bestes gegeben. Mutter und Oma soll es doch gutgehen. Immer in der Hoffnung, dass auch für ihn irgendwann der Zeitpunkt kommt – so wie bei seinem rosaroten Panther – mit voller Kraft und glänzendem „dicken Fell“ aus der Dunkelheit ins Tageslicht zu springen. Vielleicht wird seine Mutter dann ihr Ballkleid überstreifen. Es wird Zeit. Ich schaue auf die Uhr. Ich hatte mich vielleicht doch nicht in der Tür geirrt.

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