Alt – und zum Weitermachen verdammt

Das Tegernseer Tal gilt als reich. Es ist Heimat jener, die es geschafft haben, und jener, die von ihnen profitieren. Und irgendwo dazwischen sitzen die Gestrauchelten. Wir stellen sie vor. Wenn die Rente nicht ausreicht – ein 73-jähriger Gmunder berichtet.

Der Aufgang zur Tafel. Das Gebäude steht direkt vor dem Gmunder Bahnhof.
Die Treppe zur Gmunder Tafel. Steigt man sie hinauf, geht es aufwärts, steigt man sie hinab, wieder abwärts.

Warum? Er hat doch immer gearbeitet, jeden Job angenommen, war nie zimperlich bei der Annahme der Angebote, die sich ihm boten. Und jetzt ist er hier. Mit 73 Jahren. Er geht die Treppe nach unten, vorbei an den jungen Flüchtlingen, die dicht gedrängt vor der Eingangstür der Gmunder Tafel stehen und noch darauf warten, sich mit Lebensmitteln für die kommende Woche einzudecken. Er war schon an der Reihe, nun tritt er den Heimweg an.

Sein Unterhemd wölbt sich über seinen Bauch nach oben. Die Hose steht offen. Nicht, weil er vergessen hätte, sie zu schließen, sondern weil er vergessen hat, den Knopf anzunähen. Und trotzdem hält die Hose. Auch er hält, und zwar am Leben fest. Und auch ihm fehlt ein entscheidendes Detail: Geld. Der Rentner lebt von 830 Euro im Monat. 385 Euro gehen allein für die Miete drauf. „Wenn`s oiwai enga wiad, fahrst automatisch obi“, sagt er. Als wäre diese Erkenntnis etwas, das er nicht auch schon vorher gewusst hätte.

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Und dann sprudelt es in bayerischem Dialekt ungefiltert aus ihm heraus. Es scheint, als hätten seine Worte – ähnlich wie Rennautos – nur darauf gewartet, endlich die Box verlassen zu dürfen. Sie rasen regelrecht auf die Strecke, lassen die Buchstaben aufheulen und dann – überschlagen sie sich. Und ihr Fahrer? Der verschwindet in der Rauchwolke aus Worten. Ob und wie er überlebt, ist nicht mehr auszumachen.

Der Verlust und die Folgen

Er rückt seine Brille zurecht. Ja, es gab Phasen in seinem Leben, da wollte er sich von der Brücke stürzen. Das war vor 25 Jahren. Kein Bungee-Sprung, aber ein ebenso unnötiger wie mutiger Versuch, das Dasein mit einem Schritt nach vorne zu beenden. Warum? Weil ihn seine Frau vor die Tür setzte. Über die Gründe schweigt er. Vergessen haben wird er sie nicht. Das war an einem Dienstag. „Alle schlimmen Sachen waren an einem Dienstag“, sagt er. Fünf Jahre hat er gebraucht, um das Ganze zu verarbeiten. Seelisch am Boden sei er gewesen, aber getrunken habe er deswegen nicht. Statt einer Frau hat er heute eine Katze.

Tiere liebt er. Mit Tieren ist er aufgewachsen. Auf einem Bauernhof im Landkreis Eggenfelden hilft er der Großmutter in der Landwirtschaft aus. Doch auch hier fehlt ein entscheidendes Detail: Seine Mutter. Irgendwie schafft sie es, ihm gleich zu Beginn seines Lebens abhanden zu kommen. Mit 19 Jahren fängt er an, bei BMW zu arbeiten; später sattelt er um und wird Pferdepfleger. Dann ruft das Militär. Seine Erinnerung daran: Schreie, mit denen man ihn zu drillen versuchte. Seine weißen Locken fallen gekonnt in sein Gesicht als er den Kopf schüttelt und fortfährt: „Das Leben macht dich grausam.“ Nach der Bundeswehr verbringt er immer wieder den Sommer auf Almen und unterstützt die Landwirte bei der Heuarbeit und beim Kühemelken. Und es macht ihm Spaß.

Das Jammern hat er nicht gelernt

Mit 31 Jahren legt er die Zimmermannsprüfung ab. Fortan baut er. Drei Jahre später fallen die Aufträge weg, das Kreuzweh und die Schmerzen in der Bandscheibe bleiben ihm. Der nächste Schritt nach vorne – eine Umschulung zum Computerfachmann. Doch auch hier mangelt es irgendwann – nach Jahren – an Aufträgen für ihn. Er trifft eine Entscheidung: Außer Wasser, Licht und seiner Katze brauche er nichts, so seine Überzeugung. Anstatt weiterzugehen, zieht er sich auf seine geliebten Almen zurück.

Wie alt er zu diesem Zeitpunkt war? Er erinnert sich nicht mehr. Er weiß nur, dass er mit einem Mal den in der Kindheit geprägten Leistungsdruck abschütteln konnte, der von Lehrern, Eltern und sogar dem Pfarrer ausgeübt wurde. Fragen? Durfte er als Kind nämlich keine stellen; Wünsche äußern erst recht nicht.

Jetzt ist er 73 und hängt im Sozialnetz fest. Er lacht. Zum Weinen reicht es nicht. Geld sei doch genug da, meint er, nur die, die gearbeitet haben, würden es nicht kriegen. Und deswegen sei er seit ungefähr vier bis fünf Jahren auf die Tafel angewiesen, sagt er. Scham? Hat er abgelegt. Freunde? Gibt es keine. Und die Vermieterin? Will ihn loshaben.

Noch ist er fit

Es ist kurz nach 16 Uhr. So langsam löst sich die Tafelrunde auf. Hier und da steigt noch jemand mit prall gefüllten Plastiktüten die Treppe hinunter ins Freie.

Zurück bleibt ein Überlebenskünstler in Sandalen, dessen Kraft zwar nachgelassen, der es aber immer wieder verstanden hat, sich an seinen weißen Locken nach oben zu ziehen. Noch kann er bis zu 450 Euro im Monat dazuverdienen, noch ist er fit. Blöd nur, wenn ihm eine Krankheit einen Strich durch den optionalen Zusatzverdienst macht. Zum Glück braucht er nichts weiter außer Wasser, Licht, seiner Katze und einem winzigen Detail: Einen Knopf an seiner Hose.

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