Ansichten einer ehemaligen Berlinerin:
Bayern, du nervst!

Eine Berlinerin zieht in ein bayerisches Kuhdorf – ein Abenteuer beginnt. Und eine Liebesgeschichte.

Berlinerin in Bayern. / Foto: Birgit Posselt

Bei Instagram stolperte ich kürzlich über ein Werbevideo einer oberbayerischen Gemeinde am Inn. Das – zugegeben ungewollt komische – Video zeigt junge Mitarbeiter einer Behörde, die mit ihrem Video andere junge Menschen für einen Job in besagter Behörde gewinnen wollen. In den Kommentaren wird das Video übel zerrissen. Neben Beleidigungen wie “Kein Wunder, dass bei der Stimme von dem Mädl keiner da arbeiten will”, störten sich einige der feigen Internet-Trolls vor allem an einem Punkt, um den man in Bayern nicht drum herum kommt: dem bayerischen Dialekt.

Den ich so liebe. Der mir ein Gefühl von Heimat gibt. Der oft zu Situationskomik führt – und mir klar macht, dass ich, gebürtige Berlinerin, mich nach etwa 1,5 Jahren im Oberland noch locker in Modul 1 meines persönlichen Integrationskurses “Bayerisch werden und verstehen” befinde. Doch zurück zum Video.

Zwar war mir nach dem Lesen der fiesen Kommentare unter dem Video nicht zum Lachen zumute, schmunzeln musste ich dann aber doch. Denn: Nicht lang ist’s her, da zog eine lebensfrohe Berlinerin in einer spontanen Aktion ins erzkatholische Birkenstein, dem vielleicht schönsten Gemeindeteil von Fischbachau im malerischen Leitzachtal. In einer Lebensphase, in der die meisten Menschen sich mit Familienplanung und Hausbau beschäftigten, schmiss ich sämtlichen Ballast aus meinem Leben, verkaufte 90 Prozent meines Hab und Guts und machte mich mit dem Nötigsten – und viel Abenteuerlust im Herzen – auf den Weg in mein neues Leben in den Bergen.

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Raus aus der Komfortzone, rein ins Abenteuer Leben

Einen einzigen Freund hatte ich damals in der Gegend. Was mich zu diesem gewagten Sprung ins a***kalte Wasser getrieben hat, werde ich oft gefragt. Die Liebe? Ja! Die Liebe zu den Bergen, die Liebe zu Bayern, die Liebe zum Leben. Die Angst, meine Träume nicht zu leben und das Leben an mir vorbeiziehen zu lassen, war größer als die Angst vorm Scheitern.

Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde in Bayern. Ich wusste nur, dass ich mich wieder lebendig fühlen wollte. Genug mit glücklich sein auf Sparflamme. Ich wollte wieder fürs Leben brennen! Allerdings: Hätte das Schicksal mir in Berlin nicht eine Keule nach der anderen übergebraten und mich im letzten Akt nicht mit dem Tritt des Jahrtausends in den Allerwertesten aus meiner Komfortzone katapultiert, würde ich wahrscheinlich noch immer so vor mich hindümpeln – im lauten Berlin, in dem viel möglich ist und irgendwie nichts funktioniert.

Goaßlschnalzer, Huberbuam, do geht’s eini – willkommen auf Planet Bavaria

Und jetzt bin ich hier. Zwischen vielen Kühen, Schafen, Pferden – und Menschen, die ich oft nicht verstehe – und wir uns trotzdem prächtig verstehen. Erneut zurück zum Video der Gemeinde am Inn. Das nämlich erinnerte mich daran, wie ich vor rund 1,5 Jahren zwecks Einbürgerung fröhlich im Rathaus von Fischbachau eintrudelte. An jenem Tag realisierte ich, dass ich nicht nur in ein anderes Bundesland gezogen war. Nein, ich war auf einem anderen Planeten gelandet. Planet Bavaria! Und ich verstand – tataaa! – nur Bahnhof. Fragmente. Mehr nicht. Die freundliche Sachbearbeiterin stellte mir eine Frage, die ich unmöglich beantworten konnte. Fragend schaute sie mich an. Weil ich, statt zu reagieren, sie vermutlich so planlos anglotzte, wie ein Schwein, das in ein Uhrwerk schaut – und einfach mal nichts versteht.

“Hochdeutsch, bitte?!”

Meiner letzten Hirnzelle verdanke ich wohl, dass ich gerade noch ein schüchternes “Hochdeutsch, bitte?!” stammeln konnte. Sie lachte, ich lachte – vor Erleichterung. Puh! Dass die Zugeroasten in Bayern nicht immer herzlich willkommen sind, das hatten mir ein paar Allwissende vor meiner Expedition nach Planet Bavaria mitgegeben. Dass man es als “Ausheimische” nicht leicht habe in Oberbayern Fuß zu fassen. Man sei total auf sich gestellt. Totaler Schmarrn, wie ich heute mit möchtegern-bayerisch rollendem R behaupten kann.

Schon bei der Anmeldung im Rathaus spürte ich, dass es richtig war, meiner Intuition zu folgen und mich nicht von negativen Kommentaren anderer verunsichern zu lassen. “Schee, dass du jetzt bei uns lebst. Ist doch okay, dass i di dutze?!”, sagte die Bearbeiterin zum Abschied und überreichte mir meinen Personalausweis mit dem neuen Adressstempel. Im Auto starrte ich minutenlang auf das kleine Kärtchen mit meinem grimmigen Verbrecherfoto. Von Berlin nach Birkenstein. Mein Herz machte einen Sprung – vor Freude!

So ein herzliches Willkommen in der Fremde – in der Fremde angeblich nicht immer so gern gesehen sind – ist eine wunderbare Erfahrung, wenn man die tristen Berliner Behörden gewöhnt ist, in denen die ruppige Berliner Schnauze die gängige Amtssprache ist. In Fischbachau soll ich einfach im Rathaus vorbeikommen, wenn ich noch Fragen habe – ohne Termin.

Ich erinnere mich, wie im völlig überlaufenen Berlin Termine für bestimmte Behörden teilweise auf dem Schwarzmarkt verkauft wurden. Wer dieses “Alternativangebot” ablehnt, muss mitunter wochenlang auf einen Termin warten. Klar, man kann Berlin nicht mit Fischbachau vergleichen. Mich aber freiwillig aus diesem Stress herausbewegt zu haben, fühlt sich gesund an.

Ihr herzlicher Schlüsseldienst mit Mistgabel

Und außerdem: Dass im Landkreis Miesbach alles irgendwie läuft und man im Notfall nicht alleine dasteht, wie einige damals behaupteten, kann ich nach 1,5 Jahren ebenfalls behaupten. Als ein Bekannter aus dem Dorf – lustigerweise ebenfalls Exil-Berliner – sich abends ausgesperrt hatte, rief er nicht den Schlüsseldienst. Nein, er lief zum Bauern nebenan. Der schickte seinen Sohn mit einer Mistgabel los, damit dieser die Terrassentür mit besagter Mistgabel öffnet. Ein Ruck und die Tür war auf. Männer, die handwerklich begabt sind. Hallelujah! Warum ich mich so darüber freue? Weil dieser Männertyp in Berlin eher Mangelware ist. Und weil mich der Schlüsseldienst damals ein paar Hundert Euro kostete.

Da fällt mir ein: Mein erstes Date auf Planet Bavaria hatte ich mit einem gut aussehenden Schreiner. Ganz nebenbei hatte ich ihm am Telefon von einem Problem in meiner Küche erzählt. Als er bei unserem ersten Treffen mit einer Flasche Wein und einem Werkzeugkasten vor mir stand – und dazu noch blendend aussah! – konnte ich das kaum fassen. In Berlin sind die meisten Typen vor allem eins: super cool, super durchgefeiert – und handwerklich oft super unfähig.

Stell dir vor, du hast einen Platten und bist in Bayern

Und so langsam, liebes Bayern, gehst du mir mit deiner Großartigkeit auf die Nerven. Warum? Wir befinden uns auf dem Parkplatz von Edeka Friedlmeier, wo ich mit einem platten Hinterreifen im strömenden Regen gestrandet bin und auf den Gelben Engel vom ADAC warte. Aus der angekündigten Wartezeit von einer Stunde werden zwei Stunden. Um meinen Frust zu lindern, spielt ein Freund aus München am Klavier für mich und lässt mich via WhatsApp zuhören.

Als der ADAC eine zusätzliche Stunde Wartezeit spendiert, ist mir zum Heulen zumute. Auch Klavierkonzert und aufmunternde Worte helfen nicht mehr. Ein anderer Freund aus München bietet an, sich trotz Feierabendverkehr ins Auto zu setzen und den beschissenen Reifen zu wechseln. Ich möchte das nicht, es wäre mir unangenehm, wenn er wegen mir im Stau steht. “Warum fragst du dann nicht einfach jemanden auf dem Parkplatz um Hilfe?”, fragt er. “Das ist normal in deiner Ecke. Die Burschen da können das alle – und werden dir gern helfen”.

Ich bin irritiert. Jemand soll gern seine Freizeit opfern, um mein Auto in die Höhe zu kurbeln und diese Drecksarbeit zu machen? Mir ist nach einem Drink zumute. Muss ja eh auf den ADAC warten. Ein Piccolöchen für die Nerven. Zum ersten Mal fühle ich mich etwas zu weit weg vom lauten Berlin, in dem mein soziales Netz riesig ist, genau wie das öffentliche Verkehrsnetz. Mit Tränen in den Augen steige ich aus dem Auto, um den Piccolo zu kaufen. Ich habe Heimweh, “Hey, du hast einen Platten!”, spricht mich ein junger Mann an.

“Ich weiß”, heule ich los. “Ich warte seit fast drei Stunden auf den ADAC”. Warum ich nicht einfach jemanden um Hilfe gebeten habe, fragt er mich. In diesem Augenblick piept mein Handy. Der Gelbe Engel vom ADAC will in zehn Minuten da sein. “Sag ihm, dass er nicht kommen muss. Ich wechsel deinen Reifen schnell”, lacht er. Perplex folge ich ihm zu seinem Auto, das bis unters Dach mit Werkzeug beladen ist. Ein Mechatroniker im Außendienst!

Bayern-Engel statt Gelber Engel

Ich sage dem Gelben Engel ab – und wende mich dem bayerischen Mechatroniker-Engel zu, der mittlerweile den Wagenheber angesetzt hat. “Du bist so ein Engel”, stammele ich und heule. Vor Erleichterung, vor Rührung, vor Dankbarkeit. Der Fremde nimmt mich in den Arm, drückt mich kurz fest und sagt: “Das ist selbstverständlich. Ich mache das gerne. Vor einigen Jahren hatte ich einen schweren Autounfall. Der Ersthelfer, der mich aus dem Wrack zog, ist heute mein Arbeitgeber. Manchmal gibt es Engel. Man muss es nur weitergeben, das Gute. Dann kommen sie zu einem, die Engel”. Die Begegnung kommt mir surreal vor. Surreal schön. Und inspirierend.

Gerührt stehe ich neben dem bayerischen Engel, der nun wieder vor meinem Wagen kniet und gekonnt das Notrad anbringt. Er will dafür nichts haben. Nur eins: Dass ich es weitergebe, das Gute in mir. Dass ich helfe, wenn ich helfen kann. Dann besteht er darauf, dass ich vor seinen Augen ein paar Proberunden fahre – und dass ich das Notrad schnellstmöglich gegen einen Satz neuer Reifen austauschen lasse.

Zwei Fremde, ein Notrad, eine Erkenntnis

Wir umarmen uns zum Schluss. Zwei Fremde. Ein Notrad. Eine Berlinerin, die jetzt ganz sicher weiß, wo sie zuhause sein will. In dem Bundesland, in dem Bauern einem Nachbarn in Not die Terrassentür mit der Mistgabel öffnen und Engel auf Supermarktparkplätzen Reifen wechseln und einem was fürs Leben mitgeben. Wo man sich im Rathaus duzt und herzlich willkommen geheißen wird. Wo die Natur so schön ist, dass sie zu Tränen rührt.

Wenn ich sage “Bayern, du nervst!”, dann meine ich eigentlich: Bayern, ich liebe dich. So, wie heimlich Verliebte durch Sticheleien ihre Zuneigung äußern. Denn was sich liebt, das neckt sich. Und ich liebe Bayern. Und meinen Integrationskurs “Bayrisch für Exil-Berlinerinnen” mache ich natürlich weiterhin. Ein bisschen was kann ich jetzt auch schon sagen: Do geht’s eini, zum Beispiel. Meine Nachbarin, eine zuckersüße Einheimische, erlaubt sich gerne ihre Scherze mit mir. Ich verstehe dann wieder nur Bahnhof und setze meinen “Schwein starrt ins Uhrwerk”-Blick auf. Und dann lachen wir beide – und verstehen uns prächtig.

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