Sie stellt den Wagen auf dem Parkplatz im Söllbachtal bei Bad Wiessee ab, steckt ihr Smartphone in die Seitentasche ihrer Funktionsjacke, sucht ihre Laufmusik aus und dehnt sich am Kofferraum ihres Busses.
Eine Männergruppe, schon leicht angeheitert von einem Besuch der nahen Saurüsselalm, sieht ihr mit interessierten Blicken zu. Die 42-Jährige hat früh mit allerlei Bergsport ihren Körper trainiert. Auch die Geburt des Mädchens ist ihr nicht anzusehen. Im Gegenteil – die aufreibende Pflege setzt Fitness voraus.
Die Frau ignoriert die Blicke, die sie durch die Spiegelung in ihrem Heckfenster sieht, hört stattdessen der Musik zu, die aus den weißen Knöpfen in ihr Ohr dringt. Es sind diese drei Stunden Laufen, die ihr persönliches Stück Freiheit bedeuten. Drei Stunden – danach wird sie den Pfleger aus Rumänien ablösen, der jetzt gerade fünf Kilometer entfernt den Schleim aus dem Rachen ihrer Tochter absaugt. Der da sein wird, wenn sie aufwacht.
Die Mutter ist allein, hat keinen, der sie hätte unterstützen können. Aber dieses Alleinsein wiederum hatte sie stark werden lassen. Allein war sie wieder aus dem Tal nach der Diagnose herausgeklettert. Allein hatte sich mit Sport und Arbeit aus der Trauer-Lethargie befreit. Sie will weiterleben. Will ihrer Tochter Leben geben.
Sie sieht auf die Uhr. Es ist 18 Uhr, als sie an Gruppen von zurückkehrenden Wanderern vorbeiläuft, hinauf zur Schwarzentenn-Alm. Die Frau will um spätestens 21 Uhr wieder an ihrem Wagen stehen. Jetzt, zu dieser Stunde, riecht der Wald nach einem verbrauchten Tag. Passiert sie zurückkehrende Wanderer riecht sie deren verschwitzte Kleidung. Nur der am Abend aufkommende Wind von den Bergen, der sich über die Windungen des Söllbachs zieht, würde bald ihren Körper kühlen. Die ersten Minuten sind immer schwierig. Sie sucht den Rhythmus, der sich tragen kann. Sie muss nach und nach die kleinen Niederlagen des Tages rekapitulieren. Der Antrieb kommt mit der Wut über diese Situationen. Die genervte Frau am Telefon vom Pflegedienst. Der Arzt, der zwischen den Zeilen sie drängen wollte, ihre Tochter doch in eine Pflegeeinrichtung zu geben. Erst summt sie die Musik mit, schon auf der Höhe, wo die Felsen der Hänge nah an den Weg drücken, singt sie laut mit. Vorbei an einer Schranke, die videoüberwacht ist, läuft sie immer wieder, ohne es zu bemerken, zu schnell.
Kurz nach einer brutalen Steigung muss sie stehenbleiben. Hier ist der Weg gesperrt. Forstarbeiten. Soll sie weiterlaufen? Das Schild, das rotweiße Band ignorieren? Sie entscheidet sich nach links einen Forstweg, den sie schon einmal mit dem Rad abgefahren hatte, zu nehmen. Nach einer halben Stunde wird der Wald um sie herum lichter, die umliegenden Berge zeigen sich im Abendlicht. Im Westen sieht sie im Goldenrot den Buchstein und den Roßstein, weiter im Süden reichte der Blick hinüber zum Rofan. Die Wut ist schon fast verbraucht, als sie ihren Umkehrpunkt, eine Hütte unterhalb des Hirschberg-Sattels erreicht. Auf den trockenen Kalkgeröll erkennt sie Farbe. Sie bückt sich. Es sind Blutspuren. Ein Jäger muss, so mutmaßt sie, am Wochenende auf Jagd angesessen haben und erfolgreich geschossen haben. Die Blutspur führt weiter hinter die Hütte. Das Blut ist ihr egal. Dafür sind solche Hütten eben da, besser so, als für reiche Städter, die hier ihre Partys feiern. Sie sieht auf die Uhr, die piept.
Eine gute Stunde hatte sie gebraucht. Stolz erfüllt sie. Bergauf war das einer ihrer besten Läufe. Sie keucht, nimmt ihre Kopfhörer aus den Ohren, stützt sich auf einen gefüllten Wassertrog, und in einem Anflug von seltener Albernheit beugt sie sich hinunter und steckt den Kopf in das eiskalte Wasser. Sie prustet, wischt sich über das erhitzte Gesicht, fühlt pures Glück. Aber statt der Stille des Waldes, umfasst sie ein Geräusch. Es ist eher ein Schnaufen, kein Brummen. Sie dreht sich um, in dem Moment, in dem sich die Bärin mit einem Ruck vor ihr auf die Hinterbeine stellt. Zwei Meter trennen sie.
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