Die Bärin – Folge 4

Sie reagiert sofort, weicht langsam auf die Veranda zurück, drückt hat die Klinke der Hüttentür. Aber – alles verschlossen. 

Mikrokosmos Moos: Wächst hier auch Bärenfutter? Foto: Julia Jäckel

Die Bärin ist gigantisch und mächtig und irgendwie doch weich, denkt sie und schüttelt sich angesichts des surrealen Gedankens. Obwohl einige Meter noch entfernt, riecht sie das Tier, das schnaubt, mit den Tatzen im trockenen Boden der Lichtung scharrt. Ihr Verstand, eben noch für Sekunden verschwunden, kehrt zurück, lässt sie klare Gedanken haben. Was tun bei Bärenangriffen? Sie hat mehr als zufällig doch etwas vor wenigen Wochen dazu gelesen? Schreien? Sich größer machen? Oder sich einfach auf den Boden legen und klein machen? Bären essen doch nur Honig und Gras? Oder auch Menschen? Das Tier faucht, richtet sich auf, sieht sich um, als suche es etwas. Ist jetzt vielleicht drei Meter, vielleicht vier Meter entfernt.

Sie drückt ihren Rücken gegen die Tür, sah nach oben. Von ihrem Großvater hatte sie gelernt, dass Hüttenbesitzer die Schlüssel gern über den Stock auf einen Balken legen. Sie schieb sich langsam an der Tür nach oben, hebt ihren Arm, lässt ihre Hand über den Balken fahren. Das Tier scheint sich zu langweilen, fällt wieder auf die vier Beine, knurrt kurz und trabt tiefer in den angrenzenden Fichtenwald. Ein Splitter aus dem Holz dringt tief in ihre Hand. Sie schreit auf. Das Tier wirft den Kopf hin und her weicht kurz zurück. Aber während sie die verletzte Hand an ihren Mund führt, fällt vor ihr ein Schlüssel mit einem Anhänger auf den Boden, purzelt über die zwei Steintreppenstufen und bleibt im Vorplatz der Hütte zwischen Holzschnitzeln liegen. Reaktionsschnell springt sie hinunter, will nach dem Stück Metall greifen, aber ihre Hand verfehlt es, gräbt es stattdessen tiefer in den Holzdreck. “Schlüssel-Tür-schnell” denkt sie nur. “Fokussiere dich”. Sie spürt den Schlüssel, kommt aus der Hocke, dreht sich. Eine Bewegung, die ihr Handy aus der Tasche fallen lässt. Sie bemerkt es nicht. Wendet sich vorsichtig zur Tür, hinter sich den Bären wissend. Was, wenn das Tier nach vorn stürmt? Sie steckt zitternd den Schlüssel in das Schloss. Sieht sich sofort um. Kein Tier. Rüttelt. Nichts tut sich. Ist das ein Schlüssel für eine andere Tür? Für einen Keller? Sie schreit aus Wut, aus schierer Verzweiflung, und drückt mit aller Macht gegen die Tür. Und tatsächlich – mit einem Ruck schleudert sie auf. 

Die Frau fällt in die Hütte, stolpert nach vorn, geht in die Knie, stößt mit dem Kopf gegen einen Holztisch, sieht für Sekunden nichts – nur Flimmern und Blinken. Ist voller Schmerz. Aber irgendwo ist da noch der Instinkt. Sie rappelt sich auf und wirft die Tür ins Schloss. Sie ist gerettet. Diese Tür ist massiv. Glaubt sie. Kein Bär bekommt die aufgestemmt. Oder? Blut läuft von ihrem Kopf über das Gesicht. Sie spürt keinen Schmerz, will nur sicher sein, telefonieren. Rettung rufen. Der Tisch. Sie schiebt das schwere Möbel mit einem Schreien von seinem Platz gegen die Tür, bis Holz gegen Holz prallt. Hektisch zieht sie die Gardinen vor die Fensterscheiben, so als würde das Tier so nicht erkennen, ob sie in der Hütte sei. 

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Erst dann stolpert sie nach hinten, sackt auf den Boden und tastet ihr Telefon in ihrer Tasche. Nichts. Hektisch sucht sie im Raum danach, nichts. Sie weint. Erst still, dann schluchzend. Längst ist der Abend hereingebrochen, das letzte Licht von den umstehenden Baumreihen verdeckt. Die Nacht kommt. 

Die Frau sieht auf ihre Uhr. In diesen Minuten wird der Pfleger das Haus verlassen. Panik erfüllt sie, rollt wie eine heiße Welle vom Rückenmark hinauf in den Kopf. Ihre Tochter. Allein, die Augen im Raum umherwandernd, nach ihr suchend. Sie rufen. Keine Antwort erhalten. Panik wird den schutzlosen Körper durchfluten. Weil sie so dumm war, sie zu verlassen. Für ein paar Minuten Waldlauf. 

Es folgt ein irrer Impuls, aus dem Haus zu stürmen. Das Tier ignorieren, einfach loslaufen. Aber sie atmet durch, fällt auf den Rücken und schließt die von den Tränen brennenden Augen. Noch immer hat sie den Geruch des Tiers in der Nase, riecht nach Zoo oder Schweiß oder Angst, denkt sie. Still ist es. Bis auf ein Schnaufen. Dann ein Fiepen. Ein hoher Ton. Klagend. Aber das – das kommt nicht von draußen. Das kommt aus der Hütte. Hinter ihr.

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