Die Bärin – Folge 1

Die Bärin hat im Winter ihren Wurf zur Welt gebracht. Es sind zwei – ein Männchen, ein Weibchen, kaum größer als Meerschweinchen.

Foto: Julia Jäckel

Fast nackt und blind bleiben sie in der Nähe der ersten und vorerst einzigen Nahrungsquelle – der Bärenmutter. Die Höhle bietet Schutz vor Wölfen. Während draußen Schneestürme über die Berge des Rofan fegen, wärmt das dichte Fell der Mutter die Kleinen. Die Bärin wurde sechs Jahre zuvor im italienischen Trentino geboren, hat zwei Jahre mit ihrer Mutter verbracht, ehe sie vier Jahre lang allein auf Wanderschaft ging; im Grenzgebiet der Schweiz und Italien. Gepaart hat sie sich mit einem Männchen im Mai, war über 200 Tage trächtig. In einer Höhle im Rofangebirge hat sie nun die Kleinen zur Welt gebracht. Das Männchen wurde schon wenige Tage nach der Geburt von ihr verscheucht. 

Der Rofan ist der westliche Teil der Brandenberger Alpen. Er liegt nördlich des Inntals, östlich des Achensees, westlich der Brandenberger Ache und südlich von Steinbach. Für die Bärin ist das Gebiet eigentlich viel zu stark von Menschen frequentiert, um den Nachwuchs ohne Störung großzuziehen. Aber vor dem ersten Schnee im November findet das Tier eine geeignete Horizontalhöhle – auf 1800 Höhenmeter– über dem Achensee. 

In den ersten Wochen besteht das Leben der jungen Bären nur aus Schlafen, Fressen und ein wenig Spielen. Die zwei Kleinen müssen schnell zunehmen. Schließlich haben sie bei der Geburt nur etwa 400 Gramm gewogen. Dann zieht die Frühlingssonne im Februar in den Höhleneingang, malt dünnen Strahlen über die Wand. Die Mutter, schon sehr schmal, stupst ihren Nachwuchs hinaus: zum ersten Mal reichen und probieren sie Schnee riechen. Sie purzeln übereinander, machen erste Beißversuche an allem, was ihnen zwischen die Reißer kommt. 

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Der Höhleneingang besitzt einen kleinen Vorplatz, der nach Süden ausgerichtet ist. Hier hat die erste Sonne den Schnee schnell abschmelzen lassen, die ersten platten Gräser aus dem vergangenen Jahr tauchen auf. Ungeschickt ahmen die Kleinen das Verhalten der Mutter nach, die mit ihren fast zehn Zentimeter langen Krallen den Boden nach Insekten aufschabt. Zweimal verscheucht sie Wölfe von einem Reh- und einem Gamsriss, macht den Kleinen vor, wie sie den Balg aufbrechen. Nach und nach tastet sich die Mutter mit ihrem Nachwuchs tiefer hinunter Richtung Tal. 

Aber schon am dritten Streifzug im März stellen zwei freilaufende Hunde von Schneeschuh-Wanderern, ein Ridgeback und ein Setter, an einem Bachbett, einen der kleinen Bären, der etwas getrödelt hat. Die Mutter hat sie vorziehen lassen. Es ist ein kurzes Schütteln, dennoch bricht das Genick des Bärenjungen. Als die Bärenmutter das Bachbett hinabstürzt, Geröll und Eisbrocken neben sich ins Rollen bringt, bleibt einer der Hunde stehen. Ein Fehler, der ihm das Leben kostet. Mit einem Hieb der linken Tatze reißt die Bärin den Leib des Hundes auf. Sie verfolgt den Ridgeback, der aber flüchten kann. 

Unter großen Mühen schleppt die Mutter den toten Bärenjungen zwischen Bach und Wald hin und her, leckt ihn mit ihrer großen Zunge ab, ehe sie akzeptiert, dass er verloren ist. Noch in der Nacht überquert sie mit dem kleinen Weibchen die Grenze zu Deutschland, kehrt aber wieder zurück und sucht sich ein Revier südlich des Isar-Ursprungs. Die obere Isar ist – zusammen mit dem Rißbach – einer der ganz wenigen naturbelassenen Wildflüsse der Alpen. Das naturgemäß breite Flussbett ist keine wirtschaftlich nutzbare Fläche, dafür bieten die Schotterbänke vielen seltenen Arten einen Lebensraum. Hier hätte die Bärin ein perfektes Revier gehabt. Aber der Sommer ist in diesem Jahr ungewöhnlich trocken und heiß. Er treibt die hitzegeplagten Menschen aus der Stadt hinaus in die Berge an die Isar. Zelte und Campingwagen reihen sich am Rande des Flusses, verscheuchen die Bärin immer wieder zurück in die steilen Hochlagen. Also wandert sie mit dem Nachwuchs weiter.   

Schon im August hatte das Kleine ungewöhnliche 10 Kilo gewogen, war schon über einige Zeit selbständig in den Hängen der Berge unterwegs gewesen, hat sich tiefer hinunter aus den Wäldern zum Tal, in die Region des Ahornbodens gewagt. Mehrmals konnten Mutter und Tochter die reichlichen Lebensmittelreste aus einer Mülltonne einer Berghütte plündern. Von jetzt an sind sie den Gerüchen der Menschen nicht mehr ausgewichen, gewöhnen sich nach und nach an menschliche Bewegungsmuster, verstehen sie als Quelle für schnelle, gefahrlose Ernährung. 

Im späten September folgt die kleine Bärentochter ihrer Mutter zum Gebiet des Walchensees. Das ungleiche Paar überquert eine Bundesstraße, die dem Grenzverlauf zwischen Österreich und Deutschland folgt, und nimmt nach weiteren 20 Kilometern in einer Nacht die Fährte von Schafen auf. Die Bären erreichen gegen Mitternacht bei Vollmond ein Hochplateau zwischen der Lenggrieser und der Buchsteinhütte. Die Bärenmutter bleibt an einem stark verwesten Gams-Kadaver an der Waldgrenze stehen, um ihn eindringlich zu beschnüffeln, und die Schnauze dann tief in den toten Leib zu drücken. Aber die Tochter ist zu neugierig, wagt sich aus dem Wald hinunter zu den Tieren, die sie im fahlen Mondlicht nur als weißgraue, blökende Masse wahrnimmt. 

Hier hatte ein Schäfer seine Herde hinter mannshohe Zäune eingestallt. Die kleine Bärin versucht, ihren Körper unter dem Zaun durchzuzwängen. Sie ahnt nichts vom Strom, der auch hier über die Metalldrähte lief, schreit vor Schmerz, als der Strom ihre Nase und Tatzen durchströmt, weicht zurück, schaut zu ihrer Mutter, die die aufgeschreckte Herde nun nicht nur riecht, sondern jetzt auch sieht. Sie richtet sich auf, um noch besser zu sehen, und ist so fast zweieinhalb Meter groß. Hätte ein Mensch sie so im fahlen Licht des Mondes gesehen, groß und mächtig, er wäre davongelaufen – oder hätte für sein Instagram-Profil ein Foto schießen wollen. 

Die Schafe, die Gefahr riechend, zwängen sich laut klagend in die tiefste Ecke des Freilaufstalls, die Mütter stellen sich vor die Jungtiere. Das Jammern ihrer Tochter elektrisiert die Bärin. Ein lautes Blöken schallt über das Plateau, als die Bärin mit einem anfangs sehr langsamen, aber immer schneller werdenden Tempo aus dem Fichtenwald bricht, an Felsbrocken, die aus der Weide ragen, vorbei auf den Zaun zurennt. 280 Kilo Lebendgewicht, 42 Zähne kommen 41 Schafen mit fast 30 Kilometer pro Stunde entgegen. 

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