Einem blieb nicht die Spucke weg

Das Stereotyp eines Italo-Players verkörperte der angeklagte Wiesseer gestern vor dem Miesbacher Amtsgericht nicht. Statt Versace-Anzug hatte er seinen Lebenslauf dabei.

Gestern im Amtsgericht Miesbach: Ein in Bad Wiessee lebender Italiener wurde beschuldigt, eine Frau angespuckt zu haben./ Archivbild

Mit Hut, Stoffbeutel und Trinkflasche im Rucksack betritt der 34-jährige Angeklagte den Sitzungssaal im Miesbacher Amtsgericht. Seine Dolmetscherin sitzt bereits und wartet. Höflich nimmt er seinen Hut ab, bevor er auf der Anklagebank Platz nimmt.

Er sei in Sassari (Anm. d. Red.: zweitgrößte Stadt Sardiniens) geboren, beantwortet er auf italienisch die Frage von Richter Walter Leitner, lebe aber seit sechs Jahren in Bad Wiessee. Gerne könne er seinen Lebenslauf vorlegen, den habe er dabei. Leitner reagiert nicht und bittet die Staatsanwältin, die Anklage vorzulesen.

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Der Spuckflug zielte auf Mülleimer ab

„Ihnen wird vorgeworfen“, beginnt die Staatsanwältin, „am 14. Mai dieses Jahres in der Sanktjohanserstraße in Bad Wiessee eine Frau angespuckt zu haben“. Durch diesen Ausdruck der Missachtung habe sich die Geschädigte in ihrer Persönlichkeit angegriffen gefühlt und eine Anzeige wegen „Beleidigung“ aufgegeben.

Die Dolmetscherin übersetzt. „Ich habe die Dame nicht angespuckt“, beteuert der 34-Jährige. „Ich habe noch nie jemanden angespuckt“. Er sei zwar an besagtem Tag mit seinem Fahrrad an der Dame vorbeigefahren, habe aber erst gespuckt, als er sie überholt hatte. Ziel seiner Spuckattacke sei ein Mülleimer gewesen, der sich auf der Strecke befand. „Ich bin ein wohlerzogener, junger Mann“, erklärt er dem Richter leicht bedröppelt und fügt hinzu, dass er in einem Waisenhaus aufgewachsen sei.

Ein “einsamer” Italiener

Nach Deutschland sei er gekommen, um eine Zukunft zu haben. Er sei „hier im Ausland“ und „möchte keine Probleme“. Im Tegernseer Tal sei es für ihn nicht möglich, Arbeit zu finden, so der Angeklagte weiter. Zur Zeit lebe er von 350 Euro Sozialhilfe. Er sei am Tegernsee „verlassen“. Niemand rede mit ihm. Verwandte habe er auch nicht vor Ort. Geschweige denn eine Frau, mit der er sprechen könne.

„Ich habe es nicht gemacht“, übersetzt die Dolmetscherin die nachgeschobenen Wortes des Italieners. Es tue ihm leid. Zum zweiten Mal gibt er sodann an, „wohlerzogen“ zu sein. „Die Polizei sagt”, fährt Leitner fort, “Sie führen Selbstgespräche in italienischer Sprache?“ „Ja“, kommt es von der Anklagebank zurück. „Ich übersetze für mich selbst. Meine Muttersprache ist Sassarisch. Im Waisenhaus haben sie uns die italienische Sprache aufgezwungen“.

Keine weiteren Fragen

Ob es einen Gerichtsbeschluss gebe, der besagt, dass er unter Betreuung stehe, will der Richter von ihm wissen. Dabei blickt er auf ein Schriftstück, in dem der Name eines Betreuungsbüros aufgeführt ist. „Nein, ich habe nur meine beiden Übersetzer – um meine Situation zu verstehen“. Der Richter und die Staatsanwältin haben genug gehört.

Leitner: „Fragen?“
Staatsanwältin: „Keine Fragen.“
Leitner: „Können wir das Verfahren einstellen?“
Staatsanwältin: „Ja, bitte.“

Daraufhin erklärt Leitner dem Angeklagten, dass man das Verfahren gegen ihn einstelle. Kein Urteil. Keine Strafe. In der Folge bedeute das: Der Staat trägt die Kosten. „Sie müssen heute nur Ihr Ticket bezahlen. Wären Sie einverstanden?“ „Ja. Grazie.“ Das Ticket zahle ohnehin die Gemeinde, klärt ihn der Angeklagte höflich auf.

So ganz verstanden scheint der 34-Jährige die Situation nicht verstanden zu haben, als er nachhakt: „Was heißt das jetzt? Ich bin nicht bestraft?“ „Ja“, antwortet Leitner. „Danke“, entgegnet der Angeklagte. Dann schnappt er seinen Hut, seinen Rucksack, entschuldigt sich noch einmal höflich auf italienisch und verlässt selbstredend den Gerichtssaal. Das erste Verfahren an diesem Morgen ist beendet. Es geht doch nichts über sanfte Höflichkeit, die nach einem heißen Espresso und vor einem harten Urteil anfängt.

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