110 und 112 – aus Jux und Tollerei

Er hätte eigentlich die Telefonseelsorge gebraucht. Aber die Nummer kannte er nicht. Also wählte ein Gmunder insgesamt sieben Mal die ihm bekannten Notrufnummern. Ein Fall fürs Miesbacher Amtsgericht.

Die Leitstelle in Rosenheim koordiniert den Einsatz der Rettungswägen. Vorgetäuschte Unglücksfälle können “Leben retten” verhindern. /Archivbild

„Wer sind Sie?“ spricht ein auf der Anklagebank sitzender Anfangfünfziger die Staatsanwältin an. Beide warten auf Richter Walter Leitner. „Ich bin zum ersten Mal in einem Gerichtssaal und kenne mich nicht aus“, schmeißt er seinem Gegenüber wie zur Entschuldigung hinterher. Die Staatsanwältin lächelt. Etwas später kennt er sich aus, als ihm der Richter folgende Tonbandaufnahmen vorspielt:

1) 6. April 2018, 19:52 Uhr – Es klingelt bei der Notrufzentrale. „Bitte kommen Sie – wir brauchen einen Krankenwagen und die Polizei in Dürnbach.“ Der Anrufer: Der Angeklagte.

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2) 7. April 2018, 16:17 Uhr – Es klingelt bei der Notrufzentrale. „Ich habe meine Frau geschlagen.“ Der Anrufer: Der Angeklagte.

3) 7. April 2018, 16:33 Uhr – Es klingelt bei der Notrufzentrale. „Meine Frau hat mich angezeigt wegen häuslicher Gewalt. Sie dreht durch.“ Der Anrufer: Der Angeklagte.

4) 8. April 2018, 13:35 Uhr – Es klingelt bei der Notrufzentrale. „Ich habe meine Frau bestohlen. Sie sagt, ich soll gehen.“ Der Anrufer: Der Angeklagte.

5) 8. April 2018, 13:43 Uhr – Es klingelt bei der Notrufzentrale. „Meine Frau hat mich in Dürnbach ausgesetzt und ist volltrunken weitergefahren.“ Der Anrufer: Der Angeklagte.

6) 8. April 2018, 14:03 Uhr – Es klingelt bei der Notrufzentrale. „Meine Frau trachtet mir nach dem Leben.“ Der Anrufer: Der Angeklagte.

7) 9. April 2018, 5:36 Uhr – Es klingelt bei der Notrufzentrale. „Ich habe starke Schmerzen im Brustbereich und brauche einen Rettungswagen nach Gauting (Anm. d. Red.: Später gibt der Angeklagte an, dort in der Psychatrie gewesen zu sein).“ Der Anrufer: Der Angeklagte.

Erinnerungslücken

Insgesamt sieben Mal hat der 52-jährige Gmunder von seinem Handy aus die Notrufnummern 110 und 112 gewählt. Ohne triftigen Grund. Wobei er sich nie habe merken können, so der Angeklagte, welche Nummer welche sei. Leitner macht die Probe aufs Exempel. „Wen erreichen Sie unter der 112?“ „Die Polizei“, kommt prompt von der Anklagebank.

Und so verwechselte der Angeklagte nicht nur die Notruf-Nummern, sondern vergaß auch worum es bei seinen Telefonanrufen ging. „Über die Inhalte bin ich mir nicht mehr bewusst“, erklärte er nun vor Gericht. Die Taten räumte er aber ein und gab zu, dass keine der von ihm getätigten Aussagen der Wahrheit entsprochen habe.

Aus reiner Verzweiflung

Weder war seine Frau betrunken Auto gefahren – die Polizei fand sie später am Wohnort im Bett liegend – noch stimmten die Angaben über angebliche gesundheitliche Beschwerden. Der Angeklagte hatte die Notrufe einzig und allein aus privater Verzweiflung heraus getätigt. „Ich habe viel durchgemacht“, versuchte er seine Taten zu erklären.

Vier Bypässe habe er bekommen. Anschließend lag er vier Wochen im Koma, woraufhin „sein geistiger Zustand eingeschränkt“ gewesen sei, führte der Angeklagte seinen Erklärungsversuch fort. „Aber die Bypässe waren doch am Herzen, nicht am Kopf, nehme ich an?“ so die nicht ganz ernstgemeinte Frage des Richters, der gleichzeitig die Frage nach dem Warum stellte.

Es sei die „Verzweiflung Zuhause“ gewesen, so der Angeklagte. Seine Frau habe getrunken. In „Stresssituationen“ trinke er auch. Die Notrufe seien solchen Stresssituationen geschuldet gewesen. Heute sei ihm das peinlich. Während er im Krankenhaus lag, soll seine Frau ihn betrogen haben, gab der Angeklagte weiter an. Nach der OP habe er seine Firma aufgeben und Insolvenz anmelden müssen.

Irgendjemand sollte mir helfen. Damit das aufhört. Vielleicht hätte ich die Telefonseelsorge anrufen sollen, aber da wusste ich die Nummer nicht.

„Ich hatte einfach Angst um meine Gesundheit. Hinzu kam Streit und Alkohol. Und ich hatte kein Geld“, fasste er seine damalige Situation zusammen. Der Richter überlegte nicht lange und schlug der Staatsanwältin vor, lediglich zwei Punkte der Anklage strafrechtlich zu verfolgen. Die anderen sollten aufgrund der gesundheitlichen Probleme des 52-Jährigen fallen gelassen werden.

Geld- statt Freiheitsstrafe

Die Staatsanwältin hielt den Gmunder in beiden Anklagepunkten für schuldig. In ihrem Plädoyer berücksichtigte sie die „gesundheitliche Angeschlagenheit“ und „schwierige Lebenssituation“ des Angeklagten, sprach aber auch dessen Vorstrafen an. Eine Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen à 25 Euro sei daher angemessen. Eine Forderung, der sich Richter Walter Leitner mit seinem Urteil anschloss.

„Notrufe sind da, damit Leute, die wirklich Hilfe brauchen, auch Hilfe bekommen“, so dessen Urteilsbegründung. „Wenn Sie die Leitung mit Unfug blockieren, bekommen andere keine Hilfe.“ Eine Riesensache sei durch seine zu Unrecht getätigten Anrufe in Gang gekommen, so Leitner weiter. Die Polizei habe für „nix und wieder nix“ ausrücken müssen.

Keineswegs als Kleinigkeit könne man die Behauptung des Angeklagten werten, dass seine Frau „betrunken Auto gefahren“ sei. Wenn das wahr gewesen wäre, so der Richter, und man seine Frau nicht betrunken im Bett vorgefunden hätte, wäre sie nicht nur ihren Führerschein los gewesen, sondern hätte auch eine Geldstrafe zahlen müssen.

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