Die Europäische Union will die Zahl der Verkehrstoten senken, plant eine Führerschein-Reform. Darin enthalten: Rentner müssen alle fünf Jahre zum Fahrtauglichkeits-Check gehen. Unser Oberland ist mit Senioren gesegnet – mehr als im Rest der Republik. Was heißt das jetzt für sie?
Ein Zebrastreifen in Bad Wiessee am Abend. Eine 52-jährige Frau überquert ihn, wird von einem Autofahrer frontal erfasst, schwer verletzt und stirbt kurz darauf im Krankenhaus. Ein Gutachter stellt später fest, dass der Unfall vermeidbar gewesen sei. Der Fahrer zahlt eine Geldstrafe. Er ist zum Tatzeitpunkt 79 Jahre alt!
Im Berichtsgebiet der Polizei Oberbayern Süd stieg die Zahl der Senioren-Crashs in den letzten Jahren. In der Altersgruppe 65 Jahre und älter verunfallten Menschen 4123 Mal. Bei der Gruppe der jungen Erwachsenen (18-24) liegt die Zahl bei 2990 und fällt seit 2018.
Die Forschung ist sich schon seit Jahren über bestimmte Faktoren einig: Mit steigendem Alter können sich diverse körperliche sowie geistige Defizite einschleichen, die das Autofahren erschweren. Viele Rentner hören oder sehen schlechter, ihre Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistung nimmt ab, sie reagieren langsamer und sind zudem in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Der Blick über die Schulter klappt dann mal nicht. Unübersichtliche Situationen werden nicht mehr so einfach behandeln und lassen ältere Fahrer zum Teil schnell in Panik geraten, was dann zu schweren Verkehrsunfällen führt.
Künftig sollen Seniorinnen und Senioren über 70 möglicherweise alle fünf Jahre ihre Fahrtauglichkeit überprüfen lassen. In einigen EU-Ländern ist das bereits Praxis. Nun soll die Verkehrstauglichkeitsüberprüfung in allen Mitgliedstaaten eingeführt werden. Der EU-Kommission schweben hier ärztliche Kontrollen zur Prüfung der körperlichen und geistigen Gesundheit sowie Auffrischungskurse vor. Wie genau diese Checks aussehen, sollen die Mitgliedsländer aber selbst bestimmen können.
Nun will kaum eine Partei dieses Thema gern anfassen. Warum? Nirgendwo sind Senioren mächtiger als in den Volksparteien. Die dortigen Senioren-Lobbygruppen werden alles daran setzen, diese Idee aus Brüssel zu torpedieren. Schon der ADAC, auch ein Verein, der mehr ältere als jüngere Mitglieder hat, lehnt jede Form der Rentner-TÜVS ab. “Eine gesetzliche Verpflichtung von Eignungsuntersuchungen von Senioren erachtet der ADAC als nicht verhältnismäßig”, schreibt der Autoverein auf seiner Website und fordert: “Alle Personen, die am Straßenverkehr teilnehmen, sollten ihre Fahrfähigkeiten regelmäßig und vor allem selbstkritisch hinterfragen.” Aber gleichzeitig bietet der ADAC freiwillige Tests für die Gruppe jenseits der 65 an.
Der Verkehrsforscher Georg Rohdinger spricht sich hingegen im MDR dafür aus, dass ältere Menschen regelmäßig ihre Fahrtauglichkeit überprüfen lassen. Beispiel Geisterfahrer: Auf süd- und mitteldeutschen Autobahnen ereigneten sich in jüngster Zeit zum Teil gravierende Unfälle. Der Leiter der Unfallforschung der Versicherer, Siegfried Brockmann weiß: “Zwar sind häufig nach einer Falschfahrer-Meldung die Verursacher auch gar nicht mehr für weitere Befragungen auffindbar. Was man sagen kann: Unter den Geisterfahrern, die ermittelt werden konnten, sind … alte Menschen sind überrepräsentiert.”
Das Problem ist also nachweisbar. Aber worauf wir keine Antwort haben: Was, wenn der Senior oder die Seniorin tatsächlich merken, dass es im Straßenverkehr zu mühsam wird? In der Stadt mag ein Umstieg auf öffentliche Transportmittel funktionieren. Bei uns im Oberland bedeutet der Verzicht auf individuelle Mobilität schlicht krasse Vereinsamung. Die Fahrt zum Einkauf oder Arzt, für viele Ältere eine liebgewonnene Abwechslung, die sie auch mit anderen Menschen in Kontakt bringt, wird zur Mühsal. Wir haben trotz steigender Zahl kein Mobilitätskonzept für Senioren jenseits einer kostenfreien Buskarte im Tal.
Gleichwohl dürfte ein Fahr- oder Gesundheitscheck für Senioren ab 70 vertretbar sein. Wir werden angesichts des demografischen Wandels hier im Oberland sehr viel mehr alte Menschen am Steuer haben. Hinzu kommt, dass sich ältere Menschen gern auch die großen und anspruchsvollen SUVs leisten. Sie mögen ob ihrer schieren Größe die Fahrer schützen, sind aber als Geschoss eine üble Gefahr für die anderen Teilnehmer. Die Tegernseer Stimme findet:
Jetzt sollten wir jetzt diese Diskussion anfangen. Sie ist kompliziert genug, aber jenseits von Zwangschecks.
Manchmal braucht es einen Anstoß von außen, um liebgewonnene Marotten (“Brille? Brauche ich nicht”) zu erkennen und den anderen Verkehrsteilnehmern zuliebe zu ändern.
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