Geschichten von kleinen und großen Sorgen

Sie kommen mit Erkältungssymptomen und undefinierbaren Bauchschmerzen. Bei der medizinischen Versorgung in der Tegernseer Turnhalle geht es zu wie in jeder gewöhnlichen Arztpraxis. Einziger Unterschied: Thomas Straßmüllers Patienten sind ausschließlich Flüchtlinge. Die TS hat den Gmunder Arzt bei seiner Arbeit begleitet.

Der Arzt Dr. Thomas Straßmüller behandelt die Asylbewerber im Tegernseer Tal.
Der Arzt Dr. Thomas Straßmüller behandelt die Asylbewerber im Tegernseer Tal.

Es ist Dienstag, 14 Uhr, in der Tegernseer Turnhalle – Sprechstunden-Zeit. Die Schlange vor dem Behandlungszimmer ist ziemlich lang. Wer später kommt, muss sich hinten anstellen. In diesem Fall bildet der Flur die Wartezone. Dass hier alles etwas improvisiert wirkt, stört niemanden. Leise ist es. Nur hin und wieder durchbrechen Hustengeräusche die Stille.

Drinnen im Sprechzimmer – hinter der noch geschlossen Praxistür – agiert Dr. Thomas Straßmüller, Allgemeinmediziner aus Gmund. Im Wechsel mit drei anderen Kollegen hat er sich zur Verfügung gestellt, Flüchtlinge direkt vor Ort zu untersuchen. „Wie für alle Bürger gilt auch für die Asylsuchenden die freie Arztwahl“, sagt er.

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Weil der Ansturm aber für die niedergelassenen Tegernseer Hausärzte nicht mehr zu stemmen war, entlasten wir sie seit Ende November durch dieses Modell. Unsere Aufgabe ist eine Art Erstsichtung. Wir filtern, wer eine Überweisung zum Facharzt braucht, und leisten medizinische Grundversorgung.

Zusammen mit seiner Sprechstundenhilfe bereitet er sich auf die kommenden zwei Stunden vor. Während die ersten draußen schon unruhig werden und vorsichtig anklopfen, überprüft der Mediziner noch schnell den Arzneimittelschrank – eigentlich ein Spind in der ehemaligen Lehrerumkleide. Der Notizblock wird bereit gelegt. Ein prüfender Blick. Dann geht es los.

Wo ist der Behandlungsschein?

Patient Nummer eins ist ein junger Mann aus Somalia. Sein Gesichtsausdruck wirkt gequält. Er zeigt auf seinen Hals. „Do you have the paper for the doctor?“ („Haben Sie das Papier für den Arzt?“), will der Arzt von ihm auf Englisch wissen. Damit meint er den Behandlungsschein für das Quartal. „Er hat die Funktion des Versichertenkärtchens und dient uns zur Abrechnung der ärztlichen Leistungen“, erklärt Straßmüller.

Wer ihn mitbringt, habe laut § 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes Anspruch auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände. So zumindest die Theorie. Denn: „Leider wird der Schein gerne vergessen oder mit dem Aufenthaltsschein verwechselt.“ Seine Patienten schickt er trotzdem nicht weg. Notfallbehandlungen sind gestattet. Auch das Landratsamt, das die Scheine ausstellt, lässt Gnade vor Recht walten. Krankenscheine für die medizinische Grundversorgung könne man im Ausnahmefall auch nachträglich beantragen, so der Mediziner.

Grippe oder Husten?

Im Falle des kranken Somaliers kommt Straßmüller rasch zu einem Ergebnis. „Diagnose: Große Lymphknoten. Eitrige Mandelentzündung“, stellt er mit einem Blick in den Rachen fest und verschreibt ein Antibiotikum. Auch um die Ansteckungsgefahr der auf engstem Raum lebenden Menschen zu verringern, weist er ihn an, das Medikament regelmäßig einzunehmen. Der junge Mann verspricht es, dankt und geht. Der nächste ist dran.

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In den folgenden 30 Minuten ist Arbeit im Akkord angesagt. Ein Mann aus Mali nimmt auf der Liege Platz. „Qu’est-ce que le problème?“ („Was ist das Problem?“), will der Arzt von ihm auf Französisch wissen. Es antwortet der zweite Mann im Behandlungszimmer – ein Übersetzer, der ebenfalls als Flüchtling in der Unterkunft lebt. „Er hat Grippe“, sagt er. „Husten und leichter Schnupfen“, schwächt der Arzt die Diagnose ab und verschreibt Hustenlöser.

Kein ungewöhnlicher Befund. “Draußen ist es kalt. Erkältungsgeschichten gibt es aktuell viele. Das betrifft Flüchtlinge aber nicht mehr als Einheimische auch“, erklärt Straßmüller, als der Patient das Zimmer verlässt.

Mit großen Erwartungen nach Deutschland

Ein junger Pakistani, ebenfalls in Begleitung eines Übersetzers, ist der nächste. „Er wünscht sich etwas gegen Haarausfall“, lässt dieser übermitteln. „Mit den akuten Schmerzen, die eine Behandlung rechtfertigen, ist das manchmal so eine Sache“, schmunzelt der Arzt. Er weiß: „Fälle wie diese passieren immer wieder. Die meisten der Flüchtlinge kommen mit großen Erwartungen nach Deutschland. Das kann auch schon mal die Haare betreffen.“ Geduldig erklärt er ihm, dass das ein Problem sei, unter dem auch viele Deutsche zu leiden hätten und gegen das man nur wenig tun könne.

Nach ihm ist der Übersetzer an der Reihe. Er hat „Diarrhea“ und brauche etwas gegen die Krämpfe. Im Fünf-Minuten-Takt geht es weiter. Verstopfung, Verdacht auf ein Magengeschwür sowie Schulterprobleme sind die Anliegen, mit denen der Arzt konfrontiert wird. Und dann ist da noch ein anderer kniffliger Fall. Ein junger Nigerianer hat “pain” in der Bauchgegend. Der Arzt hat einen Verdacht: „Solche Schmerzen beobachten wir häufiger bei Asylsuchenden. Sie hängen vielfach mit der dramatischen Flucht zusammen“, erklärt er.

Auch psychische Erkrankungen sind dabei

Seinen Patienten bescheinigt der Arzt dennoch einen insgesamt guten Allgemeinzustand. „Nur die Stärksten aus den Familien verlassen ihre Heimat. Menschen mit Herz-Lungen-Krankheiten würden es gar nicht bis hierher schaffen.“ Doch es gibt nicht nur die „greifbaren“ Krankheiten. Schwieriger gestalte sich der Fall bei psychischen Problemen. „Traumatisierte Menschen erleben wir ebenfalls.“ Diese leite man dann an Psychiater oder Psychotherapeuten weiter. „Häufig verhält es sich aber auch so, dass die jungen Männer ihre seelischen Probleme zu überspielen versuchen“, sagt Thomas Straßmüller.

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Wie er die Gefahr einer Verbreitung von Infektionskrankheiten in der Halle einschätze? “Auf Grund der verpflichtenden Erstuntersuchung haben wir eine relative Sicherheit, dass es keine Infektionserkrankungen in der Halle gibt, die besonderer Hygieneschutzmaßnahmen bedürfen.” Ein Restrisiko bleibe allerdings. Denn: Die medizinische Erstuntersuchung findet in der Erstaufnahmeeinrichtung, beispielsweise in der Bayern-Kaserne, statt.

Das Recht auf Schweigepflicht gilt auch hier. Das wiederum heißt, dass wir die Ergebnisse nicht automatisch erfahren, sondern sie uns der Patient freiwillig mitteilen muss.

Das sei nicht unbedingt befriedigend, ändern lasse sich das aber eben auch nicht. Lediglich eine hoch-ansteckende Krankheit wie Tuberkulose sei meldepflichtig. „Hier liegt das Recht höher als die Schweigepflicht“, sagt der Gmunder, bevor er sich seinem nächsten Patienten widmet, diesmal einem Senegalesen.

Die Zeit schreitet voran und noch immer steht eine Menschentraube vor der Tür. Thomas Straßmüller weiß: Nächste Woche wird er neue Gesichter zu sehen bekommen. Neue und doch ähnliche Geschichten hören. Wieder wird es um große und weniger große Wehwehchen gehen, die jedes für sich betrachtet viel über seinen Menschen erzählen.

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