Gesichter aus der Ästhetik-Hölle

Der Mensch sucht gern die Idylle. Aber es reicht ihm nicht, sie einfach still zu genießen. Er muss sich in Beziehung zu ihr setzen, sie als Hintergrund für die eigene Pose nutzen. Das geht meistens schief. Vor allem im Tegernseer Tal. Befördert wird das durch ein Teufelswerkzeug namens Instagram. Eine Beobachtung vom Ästhetik-Blockwart Martin Calsow.

#tegernsee auf Instagram.

Eine Satire von Martin Calsow:

Unter dem Hashtag #Tegernsee versammeln sich zusehends eitle Trottellummen der jüngeren Generation „Goldstaub“. Da werden in orthopädisch fragwürdigen Körperhaltungen sekundäre Geschlechtsmerkmale präsentiert, Münder zu Karpfenmäuler deformiert und lästige Details wie verhornte Füße oder waschlappengroße Muttermale amateurhaft retuschiert, in der Hoffnung möglichst viele likes von gleichaltrigen Vögeln abzugreifen (“voll süß, Schöne”). Adoleszente Damen (Marke bzw. Makel: Influencer) mit Lippen, aufgeblasen wie Badeuntensilien, schauen aus gigantischen Brillen in die Linse des Smartphones: #stilllifeeastofmenopause

Hochzeitsfeiern aus der cremefarbenen Hölle, auf denen verspannt grinsende Paare mit zeppelingroßen Luftballons und mühsam verborgenen Schwitzflecken unter den Achseln auf Balkonen stehen. Trachtentrullas und ebensolche Typen mit Weichzeichner-Wahn verkitschen jede noch so schöne Idee von Tradition mit ihren „Kaufmichdusau“-Ansagen.

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Eingangskontrolle am Gasteig gewünscht

#tegernsee (für die älteren Leser: Hashtag tegernsee hat nichts mit Drogen zu tun) ist das Chiffre, unter dem sich zuerst vornehmlich junge Menschen vor See und Berge in Positur werfen und einem Optik-Unfall gleichen: Mal pressen sich junge Damen in Kleidung, die, nun ja, einen Hauch zu eng ist und somit eine Sahnebaiser-Anmutung erzeugen. Mal schauen junge Männer so, als habe bei ihnen die Verdauung seit Tagen ausgesetzt.

Mal ist es eine Dame mit Lippenbekenntnis-Hose und Cabriolette aus einem Münchner Vorort, oder eine abgehungerte Spielerfrau mit einer Stimme, die die Milch im Kühlschrank sauer werden lässt. Mal ein junger Russe mit Stiernacken, Kanisterkopf und Doppeladler-Shirt oder ein zugezogener Key Account Manager aus Mönchengladbach mit einer Tätowierung, die einer Hautflechte ähnelt. Der Hintergrund ist meist top: der See, glitzernd und verlockend, die Berge erhaben und ewig, irgendwo der Killerschwan. Der Vordergrund kreischt: „bitte wegmachen“. Und dazu werden Texte formuliert, die meist wenig mit der deutschen Sprache zu tun haben.

Aber mit Corona schwemmen auch jene menschliche Trümmer an die Ufer der Eitelkeit, die sonst nur in Stützstrumpf- und Inkontinenz-Werbungen als Model auftauchen: Männer und Frauen – im Spätherbst des Lebens, aber aufgemiezt mit einem PS-starken Fahrzeug. Oft, zu oft sind es Menschen aus NRW. Seht her, ruft das Bild: Ich mag künstliche Wangenbäckchen wie ein Kasperl haben, aber ich bin auf der Höhe der Zeit. Die Männer zeigen sich verschwitzt im geöffneten Radler-Plastikhemd, die weißen Brusthaare in der Mitte, eingerahmt von den hängenden Brüsten Semiramis’. Das Elend dieser Welt hat viele Gesichter, in diesem Sommer sichtbar unter #tegernsee.

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