Mein Freund Konrad tut es. Meine Freundin Jule hat es getan. Und in fast jedem Magazin und jeder Zeitung kann man seitenweise Erlebnisberichte darüber lesen. Die Rede ist vom Aussteigen.
Die einen katapultiert es mit einem Schwindelanfall oder Burnout aus dem Transrapid des Alltags bei einer Geschwindigkeit von 550 Stundenkilometer wie Angelika von Aufseß, die Führungskräfte coachte und nun in ihrem Haus auf dem Land sitzt, Blumen beim Wachsen beobachtet und schreibt.
Für ihren Erfahrungsbericht „Schneckenland“, in dem es um die veränderte Wahrnehmung unter den Bedingungen der Zeitlosigkeit geht, erhielt von Aufseß einen Preis vom Magazin „emotion“.
“Downsizing” ist auch in Mode
Mein Freund Konrad nennt seinen Ausstieg Sabbatjahr. Mit dem Sabbatjahr meint er allerdings drei Jahre. Er hat sein dreihundert Quadratmeter großes Haus an der Nordsee vermietet und stattdessen eine hundert Quadratmeter große Ferienwohnung am Tegernsee gemietet. Er will dort Bücher schreiben. Ob er damit die drei Jahre refinanziert ist nicht von Belang, denn sein dreijähriges Sabbatjahr bestreitet er von Ersparnissen und als Arzt mit Professur kann er nach drei Jahren wieder einsteigen ins Berufsleben.
Meine Freundin Jule löste ihre Wohnung auf, stellte ihre Möbel in einem Lager unter, meldete ihr Auto ab und ging für ein Jahr nach Asien, nicht ohne vorher schon die ersten Aufträge für das Jahr danach zu akquirieren.
Olga-Tatjana Rauch, erfolgreiche Marketingmanagerin, stieg ebenfalls aus, kann man in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsmagazines „Brand eins“ lesen. „Erst die Karriere, dann der Traum vom anderen Leben“, so beginnt der Beitrag. Neues Leben, neuer Name: Olga-Tatjana Rauch schreibt als Tatin Giannaro seit zwei Jahren Romane.
Drei hat sie im Selbstverlag veröffenticht. Die Unkosten sind noch nicht drin, was kein Problem sei, denn die Ersparnisse machen das „andere“ Leben möglich. Und außerdem lauern bereits die Headhunter darauf, dass Tatin Giannaro, ach nein, Olga-Tatjana Rauch in den Transrapid des Chefetagenalltages wieder einsteigt.
Sparen, sparen, sparen – und sich dann Freiheit und Zeit erkaufen
Damit befinden sich all die Aussteiger auf Zeit in erlesener Gesellschaft. Privatiers nannte man in früheren Jahrhunderten Menschen, die auf eigene Kosten lebten. Der Schriftsteller Marcel Proust (1871 bis 1922) gehörte zu ihnen und der schottische Philosoph und Ökonom David Hume (1711 bis 1776). Letztere rechnete sich aus wie viele Jahrzehnte er von seinem Erbe leben konnte, wenn er seinen Lebensstandard einschränkte.
Dabei arbeitete er fleißig an der Ausarbeitung seiner philosophischen und ökonomischen Ideen. Sein „Traktat über die menschliche Natur“ gehört heute zu den bedeutendsten Werken der Philosophie. Verdient hat er damit nichts.
Manche Menschen sparen, um sich den Traum vom Eigenheim, vom Luxusauto oder Fernurlaub zu erfüllen. Immer mehr Menschen kaufen sich allerdings vom Ersparten Zeit und die Freiheit, das zu tun, was sie schon immer tun wollten.
Interessant, dass die meisten in dieser Zeit schreiben, sogar großartige Leistungen in ihrem Fachgebiet vollbringen. Nur kann man nicht davon ausgehen, dass es einen monetären Ausgleich gibt. Das Kaufen von Freiheit und Zeit ist offensichtlich so etwas wie das Kaufen von Autos und Kleidern.
Sicher wird es bald Ratgeberbücher von der Art „Richtig aussteigen“ geben. Eine Website gibt es bereits. Unter www.ratgeber-aussteigen.de finden Aussteigerwillige Tipps fürs richtige Aussteigen. Einer lautet: Sparen. Sparen. Sparen. Das ist eigentlich nichts anderes wie beim Haus- oder Autokauf und all den anderen Dingen: Erst arbeiten, arbeiten, arbeiten und dann konsumieren, in diesem Fall Freiheit und Zeit …
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