Warten auf den Schnee

Alice im Oberland: Eine Kolumne von Gesina Stärz
Im Rhein gehen die Leute spazieren und nicht etwa weil er zugefroren ist, sondern weil kein Wasser mehr darin fließt.

Im Wald in der Nähe des Sylvensteinspeichers brennt es, nicht etwa weil wir einen trockenen Sommer hatten, sondern den trockensten November seit es Wetteraufzeichnungen gibt.

In München fahren Radlfahrer mit kurzen Hosen und freiem Oberkörper, und zwar am 1. Dezember. Solche und ähnliche Dinge hörten wir in den letzten Tagen in den Nachrichten oder erzählten sich die Leute.

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Wir warten in diesen Dezembertagen auf Weihnachten, das Christkind – und auch ein wenig auf den Schnee. Als gestern die ersten zwarten Flocken auf das Tal herunterrieselten, hörte man fast den Seufzer der Erleichterung und eine Welle an Meldungen schwappte durch facebook. “Schnee”, “Endlich Winter”, “das Warten hat ein Ende”. Doch sicher wissen wir, auch angesichts der nun geänderten Wetterlage, nicht, ob wir uns auf weiße Weihnachten freuen dürfen.

Wir warten auf den Schnee – auch bei 14 Grad und Sonnenschein

Dabei ist unsere Art zu warten keineswegs als passiv zu bezeichnen, sondern wir warten sozusagen bei jeder Wetterlage – auch bei 14 Grad – mit großem Einsatz. Weihnachtsbeleuchtung in allen Varianten prangt von Balkonen, Brüstungen, hängt in Lichtergirlanden in Bäumen, in Fenstern.

Glühwein und andere weihnachtswürzige alkoholische Getränke werden auf den Weihnachtsmärkten am Tegernsee angepriesen, so dass man vor lauter Hirschküssen, Heidelbeerglühweine, Jägertees gar keine Bratwurststände mehr sieht.

Vielleicht sollten wir uns die Weihnachtsstimmung und den Schnee einfach herbei trinken inklusive der kalten Füße, Hände, Nasenspitzen. Immerhin konnte man viele Menschen noch am Wochenende beobachten, die dick eingemummt in Daunenjacken, mit Woll- und Fellmützen auf den Kopf und die Füße in Winterstiefeln bei Temperaturen um die 12 Grad über die Weihnachtsmärkte flanierten.

Alles hat den Anschein, als hätte sich die Mühe gelohnt. Immerhin gibt es erste Anzeichen von Winter und Schnee. Kommen also die Winterreifen doch noch zum Einsatz, die wir seit Oktober aufgezogen haben?

Ist der erste Schnee erstmal da, warten wir auf weiße Weihnachten.

Haben nicht die beiden Landstreicher Estragon und Wladimir in Samuel Becketts Stück „Warten auf Godot“ ebenfalls gewartet, und zwar auf Godot? Sie haben in einer Bushaltestelle auf diesen Godot gewartet, den sie weder kannten, noch irgendetwas über ihn wussten. Und alle haben mitgespielt, der Landbesitzer Pozzo, sein Diener Lucky. Der Botenjunge, der verkündet, dass sich Godots Ankunft verzögert, er aber bestimmt kommen würde.

Erinnert Letzterer nicht an unsere Wettervorhersage, die verlauten lässt, in diesen Tagen sinkt die Schneefallgrenze? Auf 400 Meter? Auf 1000 Meter? Ob der Schnee im Tal liegenbleibt oder sich wieder in die Berge zurückzieht? Sicher können wir uns dessen angesichts der unklaren Wetterlage nicht sein.

Godot jedenfalls kommt nicht. Die beiden auf einen gewissen Godot wartenden Landstreicher stehen als vergeblich Wartende für das allzu menschliche Bedürfnis auf die Ankunft eines Heils zu warten. So ein bisschen scheint es in diesen Dezembertagen auch zu sein, wenn wir auf den Schnee, auf Weihnachtsstimmung und zu guter Letzt auf das Christkind und weiße Weihnachten warten. Aber vielleicht bekommen wir sie ja.

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