Drei Stunden dauerte die Gerichtsverhandlung heute Vormittag im Miesbacher Amtsgericht. Angeklagt war ein 34-jähriger Tegernseer, der sich im August vergangenen Jahres auf einer Gmunder Baustelle mit einem Maler angelegt hatte. Dieser hatte den Tegernseer angezeigt, nachdem er angeblich von ihm “angegriffen” worden sei, und seit diesem Vorfall unter einer “posttraumatischen Störung” leide.
Rückblick. Es ist der 24. August 2017. Auf einer Baustelle in Gmund arbeitet ein Mann aus Chemnitz. Über eine Leiharbeiter-Firma hat er den Auftrag erhalten, die leeren Räume eines dort neugebauten Hauses zu streichen. Er arbeitet allein, so wie die anderen Tage auch. Gegen 7.30 Uhr taucht auf einmal sein Auftraggeber in Begleitung eines Tegernseers auf. Ein Subunternehmer, wie er später erfährt. Dieser hat den Auftrag, auf der Baustelle „nach dem Rechten zu sehen“, wie der Auftraggeber – ein 29-jähriger Tegernseer – später bezeugen wird.
Aussage gegen Aussage
Mit der Frage „Was haben Sie eigentlich die letzten Tage gemacht?“ und der Aufforderung: „Mach hin! Schnell, schnell!“ verärgert der Subunternehmer den Leiharbeiter so sehr, dass dieser trotzig antwortet, wenn es ihm zu langsam sei, könne er ja „selber streichen“. Es kommt zum Streit. Laut Aussage des heute als Zeugen geladenen Leiharbeiters habe ihn der Tegernseer mit zwei Händen vorne am „Schlawickl gepackt“ und „mit voller Wucht an die Wand geschoben“.
Dabei habe er seinen Kopf retten wollen und diesen so ruckartig nach rechts gedreht, dass sein „Halswirbel gerissen“ sei. Ihm sei sofort „schlecht“ und „schwindelig“ geworden. Nach dem Vorfall habe er sich im Tölzer Krankenhaus röntgen lassen. Die Diagnose: Nerv eingeklemmt. Eine Verletzung der Halswirbelsäule schließt man dort aus. Ein etwa einmonatiger Reha-Aufenthalt im Oktober folgt. Der angeklagte Tegernseer hingegen behauptet, der andere habe sich ans Genick gepackt und geschrien: „Ich rufe die Polizei“. Dass er den Leiharbeiter angefasst haben soll, bestritt er heute vor Gericht.
An Details der etwa fünf Minuten andauernden Auseinandersetzung kann er sich jedoch nicht mehr erinnern. Richter Leitner hakt nach: „Alles weg?! Dann haben Sie vielleicht auch vergessen, dass Sie den Angeklagten angefasst haben? Ist doch komisch, junger Mann“. Der Angeklagte schweigt und schüttelt leicht den Kopf. Vom Tegernseer verlangt der Leiharbeiter 1.500 Euro Schmerzensgeld. Die Firma des Mannes stellt dem Angeklagten zusätzlich 4.166 Euro für die Arztbesuche, Therapie und den Lohnausfall in Rechnung.
Widersprüchliche Behauptungen
Richter Walter Leitner weist den Leiharbeiter heute vor Gericht darauf hin, dass er die ärztlichen Atteste unaufgefordert der Polizei hätte aushändigen müssen. Diese würden bis heute nicht vorliegen. Doch das scheinbare Opfer schiebt die Schuld von sich. Darauf hätte ihn die Polizei aufmerksam machen müssen, entgegnet er. Der Richter liest in der Akte. „Im Bericht der Reha-Klinik steht, Sie haben ausgesagt, Sie seien „von hinten“ von einem „Psychopathen“ an die Wand gedrückt worden. Vorhin sagten Sie, der Angeklagte habe Sie vorne am Schlawickl gepackt“.
„Keine Ahnung, wie das da reinkommt“, verteidigt sich der Leiharbeiter. Der Richter weist ihn sodann auf seine seit 2010 bestehende Depression hin. Ebenso auf seine widersprüchlichen Aussagen bei der Polizei. Im Polizeibericht stehe, so der Richter, der Angeklagte habe Sie „am Arm gepackt. Vorhin sagten Sie aber, er packte Sie vorne am T-Shirt“.
Jetzt mischt sich der Gmunder Rechtsanwalt Christian Lennert ein. Die Klinik habe festgestellt, dass er Medikamte nehme, und zwar Antidepressiva. Als Nebenwirkungen werden Kopfschmerzen und Schwindel auf dem Beipackzettel angegeben. Das habe damit gar nichts zu tun, verteidigt sich der Leiharbeiter, gerät aber langsam in Rage. Der Angeklagte sei völlig ausgeflippt an besagtem Tag und habe schäbig gelacht. Lennert bleibt ruhig. Sein Mandant sei 1,70 Meter, „Sie sind 1,83 Meter…“
Verfahren eingestellt
Davon will der Leiharbeiter nichts wissen. „Ich wusste ja nicht, dass er so ausflippt“, wiederholt er vehement und steht kurz davor, selbst auszurasten als er erneut davon spricht, dass der „Angeklagte so schäbig gelacht“ habe. Der Richter verliest den Bericht der Reha-Klinik: Seit dem Angriff leide der Zeuge unter einer „posttraumatischen Störung“. Schreckhaftigkeit, Antriebslosigkeit und Albträume seien die Folgen des körperlichen Angriffs. Eine Psychotherapie sei empfohlen worden.
Verteidiger Lennert hat nach der Beweisaufnahme „starken Zweifel“ am Tathergang und wundert sich über einen Reha-Aufenthalt, der erst sechseinhalb Wochen nach dem Vorfall von dem Zeugen in Anspruch genommen wurde. „Was ist dazwischen passiert?“ will er wissen. Körperverletzung schließt er nun aus. Die Staatsanwältin versteht, „was er meint“, hätte aber trotzdem gerne das Ergebnis der Röntgenaufnahme des Tölzer Krankenhauses.
Das „radiologische Gutachten“ der Klinik läge doch vor, so der Verteidiger. Richter Leitner schlägt vor, das Verfahren gegen eine Zahlung von 1.000 Euro an die Hilfsorganisation „Weißer Ring“ einzustellen. Seiner Meinung nach sei der Klinikaufenthalt nicht nur auf die Tat am 24. Oktober vergangenen Jahres zurückzuführen. Der Angeklagte bespricht sich mit seinem Verteidiger. Dann stimmen beide dem Vorschlag des Richters zu.
SOCIAL MEDIA SEITEN