Ist die Wiesseer Chronik ein Jahr nach Erscheinen noch einen Blick wert?
Mehr als nur ein Schmuckstück

Manchmal bleiben bei uns einige Themen liegen. Es sind Kann-Stücke, nicht tagesaktuell, kein Aufreger. Dann springen sie einen Monate später wieder an. So ist das mit der Chronik Bad Wiessees. Das Buch kam zum 100jährigen Jubiläum des “Bad”-Titels heraus. Wir haben es uns einmal genauer angeschaut. Und wurden überrascht.

Werbung für das Tegernseer Tal gibt es in mannigfaltiger Form. Bunte Blättchen, gern auf edel getrimmt, preisen den Liebreiz der Heimat an, auf dass munter geurlaubt, gemietet und gekauft werde. Kaum jemand versteht sich so gut auf den Verkauf der Heimat, wie die Touristiker im Tal. Braucht es da noch eine Hochglanzchronik, wie jene aus dem letzten Jahr über Bad Wiessee?

1922 – Walter Rathenau wird ermordet. Unsere heutige Nationalhymne wird festgelegt. Ein Postkartenmaler und Putschist, Adolf Hitler, wird in München wegen Landfriedensbruchs verurteilt. Ein Ort am Westufer des Tegernsee bekommt den Titel “Bad”. Wiessee, jahrhundertelang ein verschlafenes Bauerndorf, öffnet sich der Welt, lädt Gäste ein. Der Grund: Ein Holländer hatte am Seeufer eine Jod-Schwefel-Quelle entdeckt, ein ortsansässiger Arzt versprach die Gesundung von allerlei Krankheiten für eine kriegstraumatisierte Gesellschaft. Und die Gäste kamen.  

100 Jahre später feiert die Gemeinde, noch recht zaghaft nach Monaten der Pandemie, dieses Jubiläum, bringt ein Buch dazu heraus. Chroniken über Gemeinden sind keine Seltenheit. Sie sollen Kontinuität, Traditionspflege und schlicht die eigene Bedeutung vermitteln. Seht her, uns gibt es schon lange, wir sind keine usseliger Durchgangsort mit einer Tankstelle – wir sind wer!

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Mit der Wiesseer Chronik ist es etwas anders. Man spürt die Bemühungen, nicht nur bunte Bildchen oder geschönte Geschichten aus der guten, alten Zeit zu zeigen. Gern sind es Coffeetable-Schinken, wie man sie gern in schicken Häusern zwischen Sofa und Fernseher platziert, um Weitläufigkeit zu demonstrieren, fein durchzublättern zwischen Fingerfood und Champagnergläsern.

Die Gemeinde Bad Wiessee hat einen besseren Weg eingeschlagen. Das Buch kommt in der Tat mit großer Qualität daher. Der Rohstoff Papier kommt aus Gmund, von der dortigen Papierfabrik. Das macht schon viel her. Aber was uns wirklich positiv auffällt, das sind die Kombinationen aus alten Bildern der Vorfahren und den Porträts der Menschen in der Gegenwart, junge und alte, reiche und arme Menschen. Eben jene Bewohner, die den Ort füllen, im besten Falle schmücken, mindestens aber prägen. Die Auswahl der kleinen und großen Geschichten ist gelungen. Man blättert eben nicht nur durch, legt das Buch einfach so weg. Man liest sich ein, freut sich über Anekdoten von reichen Zeitungsverlegern, skurrilen Pfarrern, übersieht den ein oder anderen Fehler. Man graust sich bei bizarren Unfällen wie den Tod des Bürgermeisters Leonhard Sanktjohanser.

Aber mehr noch berühren die alten Bilder der Menschen aus der Frühzeit des letzten Jahrhunderts. Wie sie zu jedem Ereignis, ob Geburt, Hochzeit oder Beerdigung vom Westufer hinüber nach Tegernsee rudern mussten, denn Wiessee hatte erst 1926 seine eigene Kirche und einen Friedhof. Auf einem Foto sieht man eine Witwe, in einem Ruderboot sitzend und ein Kreuz haltend. Vor ihr liegt der Sarg. Am Ufer stehen Pfarrer und Ministranten. Und für einen Moment ist man, einer Zeitreise gleich, dort bei diesen trauernden Menschen, die aller Not zum Trotz, ihren Angehörigen mit Würde einen Abschied geben. Oder die harten Gesichter der Waldarbeiter, die von Wetter und einer brutalen Arbeit hoch oben in den Bergwäldern erzählen. Da verlässt der Ort, dank dieser Bilder und Geschichten, für einen Moment seinen “Koofmich”-Eventcharakter, ist mehr als ein Spaßplatz für Feier- und Erholungssuchende. Das Buch zeigt den Lebensraum der Vorfahren, die uns diese Welt bestmöglich hinterließen. Es ist ein lesenswertes Schmuckstück, auch im Jahr nach dem Jubiläum ein gelungenes Geschenk.

Erhältlich ist die Chronik im Einwohnermeldeamt der Gemeinde Bad Wiessee und natürlich in der wunderbaren Buchhandlung Ilmberger.

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