“Nichts ist mehr, wie es einmal war”

Morgens, mittags, abends. Die Gedanken über den Unfalltod ihrer Mutter beherrschen das Leben von Sindy L. und ihrer Familie. Ein Autofahrer hatte die 52-Jährige in den frühen Morgenstunden des 17. November 2013 in Rottach angefahren und schwer verletzt liegen gelassen. Bis heute konnte der Flüchtige nicht ermittelt werden. Es bleiben die quälenden Fragen nach dem Warum – und die Hoffnung der Tochter, doch noch eine Antwort zu bekommen.

Die Tochter der verunglückten Rottacherin Sindy L. hofft immer noch auf Anworten
Die Tochter der verunglückten Rottacherin Sindy L. hofft immer noch auf Anworten

Hunderte, nein tausende Male ist Sindy L. die Nacht durchgegangen. Hat sie mit ihren zeitlichen Abläufen rekonstruiert, hat die bekannten Ereignisse des Abends verinnerlicht und hat sich in das Leben ihrer Mutter hinein gefühlt. Getrieben von den immer gleichen Fragen: Was ist in den frühen Morgenstunden des 17. November auf der Karl-Theodor-Straße in Rottach geschehen? Wer ist der unbekannte Autofahrer, der die Mutter schwer verletzt liegen ließ? Warum meldet er sich nicht?

Es sind Fragen, auf die bis heute die Antworten fehlen und die dazu führen, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Illusionen gibt sich Sindy L. nicht hin: „Antworten bringen mir meine Mutter auch nicht wieder zurück. Aber es würde mir helfen zu begreifen.“ Nichts ist eindeutig an diesem Unfall mit Todesfolge. Gesichert sind nur folgende Fakten: „Meine Mutter war aus. Bis circa viertel nach vier in der Früh hielt sie sich in der Disco Quantum auf. Sie traf dort Bekannte und führte nette Gespräche. Sie wirkte eigentlich wie immer, war entspannt und gelöst.“

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Nicht weiter zur Kenntnis genommen wurde, wie sie sich dagegen auf den Nachhauseweg machte. „Wir vermuten, dass sie zu Fuß gegangen ist. Unterwegs gesehen hat sie aber keiner. Ein Spaziergang wäre allerdings sehr ungewöhnlich für meine Mutter. Nach den Geschehnissen der letzten Jahre im Tal war sie eher ängstlicher Natur, insbesondere nachts, so dass sie sich meist ein Taxi rufen ließ“, sagt die Tochter. Oder wurde sie vielleicht ein Stück weit in einem Wagen mitgenommen? „Auch das ist möglich. Unterwegs kam es dann zu einem Streit. Sie ist ausgestiegen. Anschließend wurde sie angefahren. Abwegig, aber auszuschließen ist das nicht.“

Es bleiben Ungereimtheiten

Die nächste gesicherte Information ist, dass sie von einem Passanten gefunden wird. Schwer verletzt liegt sie auf einem Grünstreifen auf der Karl-Theodor-Straße. Sie ist ohne Bewusstsein. Da ist es bereits kurz nach fünf Uhr morgens. „Und das ist eigentlich alles, was wir wissen“, sagt Sindy L. Rätsel geben ihr und ihrer Familie der Umstand auf, dass ihre Mutter einen ganz anderen Weg eingeschlagen hatte. „Die grobe Richtung stimmte zwar. Allerdings gehörte die Karl-Theodor-Straße nicht zu ihrem Nachhauseweg, weil sie sich dort immer mehr von ihrer Wohnung entfernt hätte. Das ergibt überhaupt keinen Sinn.“

Ihre Mutter konnte nicht mehr zum Unfall befragt werden. „Zwölf Tage lag sie im Koma. Dann ist sie gestorben.“ Ärztlicher Befund und Gerichtsmedizin sind übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass Sindy`s Mutter an den Folgen des Unfalls gestorben ist. „Aber auch daraus lassen sich keine Rückschlüsse ziehen“, so die Tochter weiter.

Polizei hat Ermittlungen eingestellt

Sindy L. hat sämtliche Szenarien durchgespielt, die auch nur irgendeinen Erklärungsansatz bieten. „Angefangen bei dem Autofahrer, der vielleicht gar nicht gemerkt hat, dass er einen Menschen angefahren hat.“ Wirklich daran glauben mag sie nicht. Sie geht eher von einer bewussten Entscheidung aus, sich vom Unfallort zu entfernen. „Wer weiß, vielleicht war er alkoholisiert und fürchtete um die juristischen sowie sozialen Konsequenzen seines Unfalls“, mutmaßt die 33-Jährige.

Zwei Jahre nach dem tragischen Unfall hat die Kriminalpolizei den Aktendeckel zu dem Fall geschlossen. Die Beamten haben die Hoffnung aufgegeben, den flüchtigen Unfallfahrer auf Basis der eingegangenen Hinweise zu finden. „Es wurde alles versucht: Anwohner befragt, Werkstätten aufgesucht, Spürhunde eingesetzt, vermehrt Streife gefahren“, sagt Sindy L. Hinweise, Anzeichen? Fehlanzeige.

Aufruf via Facebook

Die Tochter ließ ebenfalls nichts unversucht. Sie startete damals einen Facebook-Aufruf, appellierte an das Gewissen des Unfallfahrers. Sindy L. erfährt viel Zuspruch und Anteilnahme am Tod ihrer Mutter. Zeugen oder gar der Täter selber treten indes nicht mit ihr in Kontakt.

„Wer auch immer es war, Hass empfinde ich keinen “, sagt Sindy L. „Die Strafe ist für mich zweitrangig. Dafür ist die Justiz zuständig. Ich möchte nur Antworten.“ Und eine Frage stellen: „Ich will ihm oder ihr in die Augen blicken und wissen, wie er oder sie sich fühlen würde, wenn in seiner oder ihrer Familie so etwas Entsetzliches passieren würde.“

2013 erlag die 52-jährige Rottacherin ihren schweren Kopfverletzungen, nachdem sie von einem Unbekannten angefahren wurde.
2013 erlag die damals 52-jährige Rottacherin ihren schweren Kopfverletzungen, nachdem sie von einem Unbekannten an dieser Stelle angefahren wurde.

Auch wenn sich der Unfall nach der Tat eines skrupellosen Menschen anhört, weigert sich Sindy L. anzunehmen, dass er oder sie so gar nichts empfinde. „Jeder hat ein Gewissen. Man kann vielleicht verdrängen, aber trotzdem muss derjenige mit der Schuld leben, meiner Mutter nicht geholfen zu haben.“ Die 33-Jährige hat sich zurückgekämpft ins Leben, wenn auch mit Einschränkungen. „Nichts ist mehr, wie es einmal gewesen ist. Man funktioniert nur noch“, räumt sie ein.

Weitermachen. Weiterleben

Die Trauer um ihre Mutter ist allgegenwärtig. „Ihr ungeklärter Tod hat eine große Lücke bei uns allen hinterlassen. Sie war Mutter, Tochter und Großmutter.“ Weitermachen und die Hoffnung nicht verlieren. Leicht gesagte Worte, für Sindy L. ist das jeden Tag aufs Neue ein Kraftakt. Trotzdem hat sie es geschafft, wieder ein geordnetes Leben mit seinen Alltäglichkeiten zu führen: Sie geht arbeiten, trifft sich mit Freunden, kümmert sich um ihre eigene Familie.

Rückschläge gibt es immer wieder. Wenn sich das Todesdatum ihrer Mutter jährt oder Weihnachten vor der Tür steht. „Und urplötzlich ploppen die Erinnerungen auf. Ein Lied, ein Geruch reichen, und sie ist wieder präsent.“ Ihre Mutter beschreibt Sindy L. als sehr hilfsbereit und liebevoll. Sie liebte Spanien, genoss ihre wenige freie Zeit und verbrachte gerne Zeit im Kreise der Familie. Es sind Erinnerungen, die der Tochter keiner mehr nehmen kann.

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