„Ich hatte Todesangst“

Es ist ein Abend im Mai. Ein 18-jähriger Rottacher will mit der BOB zu einer Party fahren. Am Bahnhof angekommen, wird er von sieben anderen Jugendlichen verbal angegangen. Die Gruppe folgt ihm bis in den Zug – und die Situation eskaliert.

Alles begann am Bahnhofsgebäude in Gmund. / Quelle: Maxi Hartberger

Die 20-jährige Verena und der 16-jährige Sebastian (Namen von der Redaktion geändert) sitzen am 29. Mai 2019 mit ihren Freunden am Gmunder Bahnhof und trinken Bier. Gegen 20:55 kommt der 18-jährige Tobias (Name von der Redaktion geändert) aus Rottach-Egern an den Bahnhof. Er setzt sich ebenfalls auf eine Bank, wartet auf die nächste BOB – er will auf eine Party nach Schaftlach.

Kurze Zeit später kommt es zu einer Auseinandersetzung der Jugendlichen. „Diese Auseinandersetzung verlagerte sich gegen 21:00 Uhr in einen Zug der BOB“, schilderte der Staatsanwaltschaft heute vor dem Miesbacher Amtsgericht. Hierbei schubsten zwei der Jugendlichen den 18-jährigen Tobias, weil sie sich durch ihn provoziert fühlten. „Die Angeklagte Verena ging bei der Auseinandersetzung auf Tobias zu und schlug ihn wuchtig und gezielt ins Gesicht“, so der Staatsanwalt.

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Daraufhin wollte die Gruppe Tobias aus dem Zug ziehen. Dieser konnte sich allerdings in der BOB festhalten und sich aus seiner Jacke winden. „Die Jacke fiel dabei zwischen Zug und Bahnsteig. Der Angeklagte Sebastian zog diese Jacke an und lief zurück in Richtung Bahnhof. Auf dem Weg warf er die in der Jacke befindlichen Schlüssel auf die Straße.“ Neben den Schlüsseln befanden sich laut Staatsanwaltschaft noch Apple-Kopfhörer, eine RVO-Wochenkarte sowie zehn Euro Bargeld in den Taschen.

Gruppe folgt Geschädigtem bis in den Zug

Die Staatsanwaltschaft warf der 20-jährigen Verena daher vorsätzliche Körperverletzung und dem 16-jährigen Sebastian Diebstahl vor. Doch die beiden Angeklagten zeigten keine Reue, sondern schilderten den Ablauf der Situation anders. „Ich war grad auf dem Klo und als ich rauskam, hab ich gesehen, wie Tobias sich an unseren Sachen vergriffen hat. Er hat einfach ein Bier genommen, aber da lagen unsere ganzen Taschen – er hätte alles nehmen können“, erklärte Sebastian. Daraufhin soll es zu verbalen Beschimpfungen gekommen sein.

Er hat uns dreckige Hartz-Vierler genannt.

Tobias sei dann zur Bob gelaufen, habe die Gruppe aber weiter beschimpft und provoziert. Daher seien sie ihm bis zum Zug gefolgt. „Wir wollten ihn zur Rede stellen, aber nur verbal.“ Doch die Situation eskalierte. Verena gab zu, gegenüber Tobias handgreiflich geworden zu sein. „Aber ich hab ihn nur aus Reflex geschlagen, weil er zuerst mich geschlagen hat. Sogar ein Stück von meinem Zahn ist abgebrochen“, so die 20-Jährige. Dabei habe sie eigentlich nur schlichten wollen und sei dazwischen gegangen, als ihre anderen Freunde den 18-jährigen Tobias bedrängten.

Nach den Schilderungen hakte der Staatsanwalt wegen der Jacke nach. „Ich hab sie aus der Lücke genommen und die Schlüssel dann vor die Bahnhofshalle geworfen, damit er wenigstens in seine Wohnung kommt,“ so der angeklagte Sebastian. Danach habe er die Jacke an einem Stempen auf dem Bahnhofsvorplatz gehängt. Richter Klaus-Jürgen Schmid wollte wissen, warum er sich so weit vom Zug entfernt der Sachen entledigte beziehungsweise sie überhaupt da ließ. „Ich wollte ihm eben nur soweit schaden, dass er die BOB verpasst“, erklärte Sebastian sein Handeln. Für den Staatsanwalt ergab dies allerdings wenig Sinn.

Überwachungsvideos überführen die Angeklagten

Ein Ermittler der Polizeiinspektion Bad Wiessee sollte Licht in die Sache bringen. Mit Hilfe von mehreren Überwachungsbändern konnte der Tathergang rekonstruiert werden. Denn die Situation lief nicht so ab, wie von den Angeklagten geschildert. Auf einem der Videos ist zu sehen, wie zwei der Jugendlichen Tobias erstmal alleine in die BOB verfolgen. Erst später holen sie den Rest der Truppe dazu.

Tobias wird gegen die Tür gedrückt, wird von den Jugendlichen bedrängt. Und dann kommt Verena ins Spiel: Sie geht auf Tobias zu und schlägt ihn mehrmals ins Gesicht. „Daraufhin mischen alle mit und wollen das Opfer aus der BOB ziehen“, schilderte der Polizist. Irgendwann griff ein Zugbegleiter ein und rief die Polizei. Bei der Sichtung der Videobänder stellte sich zudem heraus, dass Verena die Jacke absichtlich zwischen BOB und Bahnsteig warf. Dort hat Sebastian sie dann an sich genommen und angezogen.

Für Richter Schmid gab es keinen Raum für Interpretationen. Auf den Bändern sei kein Angriff auf Verena zu sehen, bevor sie handgreiflich wird. „Wir haben doch alle Augen im Kopf.“ Auch der Diebstahl der Jacke sei klar, man sieht, wie Sebastian die Schlüssel wegwirft. Bei den Angeklagten machte sich langsam Verzweiflung breit. Sie schüttelten den Kopf, bestanden darauf, dass auf den Videos nicht alles zu sehen war bis hin zu einem resignierenden „Scheiß drauf“ von Verena.

Hier soll Sebastian die Jacke aufgehängt haben – doch sie tauchte nie wieder auf. / Quelle: Maxi Hartberger

Für die Staatsanwaltschaft und Richter Schmid war die Sache klar. Dennoch wurde vor dem Urteil noch der 18-jährige Tobias als Zeuge aufgerufen. „Als ich am Gmunder Bahnhof ankam, war da niemand. Ich hab mich auf eine Bank gesetzt und viele leere Bierdosen gesehen“, so der Rottacher. „Dann kamen die Jugendlichen aus dem Bahnhofsgebäude. Einer hat mir mehrmals gesagt, ich soll sein Bier nicht anfassen.“ Tobias beteuerte Richter Schmid mehrmals, dass er das nicht getan habe.

Geschädigter spricht von Todesangst

Als er in den Zug eingestiegen sei, kamen irgendwann plötzlich alle sieben Jugendlichen auf ihn zu. „Irgendwer hat mich dann vom Sitz gezogen und mich gegen die Tür gedrückt. Dann stand plötzlich Verena vor mir und hat mir ins Gesicht geschlagen.“ Tobias Aussagen wurden mit Kopfschütteln und Schnauben von den beiden Angeklagten quittiert. Das blieb allerdings nicht unbemerkt: „Können Sie bitte ihre Mimik und Kommentare in den Griff bekommen“, ermahnte ein wütender Staatsanwalt die Angeklagten. „Ich sehe das!“

Daraufhin setzte Tobias seine Aussage fort, die den Verdacht der Staatsanwaltschaft erneut bestätigte. Nach den Schlägen ins Gesicht „hab ich Panik bekommen und einfach zweimal um mich geschlagen, dabei hab ich dann wohl die Angeklagte getroffen“, gab er zu. Als ihn die Jugendlichen dann aus der BOB zerren wollten, konnte er sich festhalten und aus seiner Jacke befreien. „Meine Jacke und der Inhalt waren allerdings weg. Mir hat nur irgendwer noch den Schlüssel hingeworfen.“

Er habe dann vor Ort eine Aussage gemacht, als die Polizei ankam, und sei dann von Freunden mit dem Auto abgeholt worden. Wie es zu dieser Auseinandersetzung kommen konnte, wusste er nicht: „Ich hab nie etwas provokantes gesagt oder ihnen ein Bier geklaut.“ Der Staatsanwalt wollte wissen, wie es ihm seither geht:

Es ist nicht einfach, wenn sieben Leute auf einen losgehen und einen schlagen. Ich hatte Todesangst.

Vor der Urteilsverkündigung berichtete ein Jugendgerichtshelfer über die privaten Hintergründe der beiden Angeklagten. Aufgrund schwieriger familiärer Verhältnisse und „Reifeverzögerungen“, plädierte er darauf, die 20-jährige Verena nach dem Jugendstrafrecht zu verurteilen. Aufgrund einer anderen Verurteilung befinde sie sich derzeit auch in einer Betreuungsweisung. „Die würde ich auf alle Fälle beibehalten.“ Für den 16-jährigen Sebastian legte er ebenfalls eine Betreuungsweisung oder Sozialdienste nahe.

Staatsanwalt zeigt sich entrüstet

In seinem Plädoyer fand der Staatsanwalt deutliche Worte: „Wir haben hier heute zwei Geschichten gehört – eine der Angeklagten und eine, die sich tatsächlich zugetragen hat.“ Laut den Angeklagten habe Verena schlichten wollen und nur einmal mit der flachen Hand zugeschlagen, nachdem sie zuerst verletzt wurde. „Die Angeklagte hat alles gemacht, nur eben nicht geschlichtet“, so der Staatsanwalt.

Auch, dass Sebastian die Jacke nur genommen habe, damit Tobias den Zug verpasst und sie nicht selbst behalten wollte, sei für ihn unlogisch. Durch die Beweisaufnahme spreche laut Staatsanwalt alles dafür, dass sich diese Geschichte anders zugetragen hat. „Es ging um Schubsen, massive Gewalt und Einschüchterung.“ Für ihn sei es ein Rätsel, wie man sich hier hinstellen kann, sich die Videos ansieht, alles abstreitet und dem Opfer die Schuld gibt.

Jemand wurde malträtiert und verletzt – das wissen die beiden Angeklagten, sie waren dabei. Und während seiner Aussage schütteln sie den Kopf und seufzen – genauso wie jetzt bei meinem Plädoyer. Was soll das darstellen? Er wurde zusammengeschlagen und ihn dann auch noch hier im Gericht zu verhöhnen – das ist unterste Schublade.

Rechtlich sei Verena daher einer vorsätzlichen Körperverletzung in Tatmehrheit mit einer versuchten Sachbeschädigung aufgrund der Jacke zu verurteilen. Sebastian ist wegen Nötigung in Tateinheit mit Diebstahl zu verurteilen. Negativ zu beurteilen sei zudem, dass Verena bereits zweimal und Sebastian einmal vorgeahndet ist. Beide Angeklagten seien dennoch nach Jugendstrafrecht zu verurteilen. Der Staatsanwalt forderte je 200 Euro Schadensersatz, für Verena eine Woche Arrest und für Sebastian Freizeitarrest sowie eine Betreuungsweisung.

„So ein Verhalten führt zur Freiheitsentzug“

Richter Schmid sprach die beiden Jugendlichen für schuldig. Letztlich verurteilte er die 20-jährige Verena zu zwei Freizeitarresten und den 16-jährigen Sebastian zu einem Freizeitarrest sowie einer Betreuungsweisung. Beide müssen dem Geschädigten Tobias in monatlichen Raten jeweils 100 und 300 Euro Schadensersatz zahlen. Seine Begründung: „Selbstjustiz gibt es bei uns nicht.“ Als Gruppe auf eine einzelne Person loszugehen, sei keine Heldentat.

Es muss deutlich gezeigt werden, dass Gewalt gegen andere hier in unserem Land keinen Raum bekommt.

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