Warum Depressionen jeden treffen können:
“„Reiß di moi zam“ hilft Betroffenen nicht”

Die Weihnachtszeit ist für Menschen mit Depressionen besonders ansprechend. Mit Dr. Heike Mentrup klären wir, wer besonders betroffen ist und was hilft. Mentrup arbeitet als Neurologin und Psychiaterin im Medicum Tegernsee.

Dr. Heike Mentrup war bis 2016 leitende Oberärztin der neurologischen Abteilung im Krankenhaus Agatharied. Foto: Mentrup

Seit wann beschäftigen Sie sich mit dem Thema Depressionen?

Dr. Mentrup: Die Behandlung depressiver Patienten ist bereits seit meiner Facharztausbildung ein großes Thema. Seit über zehn Jahren behandle ich Patienten mit Depressionen in der eigenen Praxis. 

Was sind die häufigsten psychischen Erkrankungen, mit denen Sie in Ihrer Praxis zu tun haben? 

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Dr. Mentrup: Die häufigsten psychischen Erkrankungen sind vor allem Depressionen, gefolgt von Demenzen und Abhängigkeitserkrankungen.

Wer ist von Depressionen betroffen? 

Dr. Mentrup: Depressionen können jeden treffen, Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Das Zusammenspiel verschiedener biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren ist hierbei entscheidend. Verschiedene Risikofaktoren erhöhen das Erkrankungsrisiko.

Es gibt erbliche Faktoren, in manchen Familien häufen sich Depressionen, wobei auch hier nicht ein einzelnes Gen verantwortlich ist, sondern mehrere Gene zusammenwirken. Auch körperliche Erkrankungen, wie zum Beispiel Schilddrüsenerkrankungen oder andere hormonelle Veränderungen können Depressionen verursachen.

Erfahrungen in der Kindheit und Entwicklung können dazu beitragen, dass eine vermehrte Anfälligkeit – oder aber eine erhöhte Widerstandskraft (wir sprechen von Resilienz) gegenüber psychischen Erkrankungen vorhanden sind. Und nicht zuletzt tragen Alltagserfahrungen, zum Beispiel schwierige familiäre Situationen, Arbeits- und Lebensverhältnisse (Homeoffice/Homeschooling, Arbeitslosigkeit) oder traumatisierende Erfahrungen, Einsamkeit, aber auch globale Ereignisse (wie zum Beispiel Pandemie/Krieg) dazu bei, ob sich Symptome einer Depression entwickeln oder nicht. Besonders gefährdet sind Menschen mit familiärer Gewalterfahrung, frühkindlichen Traumata und Fluchterlebnissen.

Hängt eine Depression mit der Herkunft oder sozialen Schicht zusammen?

Dr. Mentrup: Die Depression geht durch alle Schichten. Statistisch sind zwar theoretisch in niedrigeren sozialen Schichten mehr Patienten mit Depressionen als in höheren Einkommensschichten, möglicherweise aber auch dadurch, dass Patienten durch die Erkrankung an einer Berufstätigkeit gehindert werden und damit kein geregeltes Einkommen erwirtschaften. Ähnlich sieht es beim Faktor Einsamkeit aus: Einsame Menschen leiden häufiger unter einer Depression, aber Menschen mit Depression vereinsamen auch schneller als Menschen ohne psychische Erkrankung. Die Verflechtungen sind vielfältig und Ursachen und Auswirkung lassen sich nicht sicher voneinander trennen. 

Wie viele Menschen im Tal sind in etwa betroffen?

Dr. Mentrup: Wenn man von den Zahlen der gesetzlichen Krankenversicherungen ausgeht, so hatten 2020 deutschlandweit circa 28 Prozent der erwachsenen Patienten eine psychische Erkrankung. Bayernweit sind es circa 2,7 Millionen gesetzlich Versicherte betroffen. Circa 30 Prozent davon leiden unter affektiven Erkrankungen, hauptsächlich Depressionen. Im Landkreis Miesbach gab es 2020 circa 28.500 Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Gehen wir davon aus, dass circa ein Drittel davon eine affektive Erkrankung hatten, so gab es 2020 etwa 9.500 Betroffene: davon leiden etwa 8.000 Menschen an Depressionen. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die Dunkelziffer ist sicher deutlich höher: privat versicherte Patienten fehlen in dieser Statistik, zum anderen sind nur die Menschen erfasst, die einen Arzt aufsuchen und eine Diagnose Depression gestellt wird. 

Wie können Angehörige helfen und unterstützen?

Dr. Mentrup: Die größte Unterstützung aus dem Umfeld ist da zu sein und zu merken, dass etwas anders ist als früher. Depressive Menschen ziehen sich oft zurück, sind niedergestimmt und wortkarg, nehmen weniger Anteil oder reagieren sogar rasch gereizt. Sie sagen Verabredungen ab, haben Schwierigkeiten, morgens aufzustehen, schlafen schlecht und quälen sich mit Sorgen, die Außenstehenden nichtig erscheinen.

Sie schämen sich und fühlen sich schuldig, zum Beispiel, weil sie nicht mehr so leistungsfähig sind. Die Betroffenen können sich oft gar nicht zusammenreißen und versuchen schon das Maximale. Und die bayerischen Floskeln wie „Des wird scho wieda“ und „Reiß di moi zam“ helfen Betroffenen nicht. Was wie Faulheit und Bequemlichkeit wirkt, ist oft ein massiver Antriebsmangel, der mit einer Depression einhergeht. 

Welche Hilfsangebote können Sie empfehlen?

Dr. Mentrup: Unterstützen können Sie Betroffene, indem Sie Hinschauen und Ansprechen, Sorge ausdrücken, das Gespräch suchen und Hilfe anbieten. Mit Einverständnis des Betroffenen kann der Hausarzt oder Betriebsarzt informiert werden, Kontakte zu sozialen Diensten hergestellt werden. 

Die Caritas Miesbach bietet mit dem sozial psychiatrischen Dienst ein hervorragendes niederschwelliges Kontaktangebot. Außerdem steht der Krisendienst Tag und Nacht, 365 Tage im Jahr und 24 Stunden telefonisch bereit. Die deutsche Depressionshilfe und auch das Bündnis gegen Depression bieten Informationsmaterialien, Info-Telefon, Mailberatung und Online-Foren auf ihren Internetseiten an. Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention hat einen eigenen Internetauftritt „Bitte stör mich!“ zum Thema Hilfe bei Depression insbesondere vor dem Hintergrund der Pandemieerfahrungen gestaltet. Auch dort kann man sich zahlreiche Tipps holen. 

Die Caritas ist eine zuverlässige Anlaufstelle für die Bevölkerung sein und bietet niedrigschwellige Hilfe für schwierige Lebenslagen an. Alle Angebote der Miesbacher Caritas findet ihr hier. Die Hilfsorganisation bietet unter anderem eine Gruppe für junge Menschen mit psychischer Belastung, eine Beratung für Menschen mit Suchtproblem oder eine Gruppe für Angehörige von psychisch belasteten Menschen.

Sind psychische Erkrankungen immer noch ein Tabu-Thema, oder wie wird das Thema in der Öffentlichkeit gesehen?

Dr. Mentrup: Viele Patienten mit Depression schämen sich für ihre Erkrankung, fühlen sich hilflos und haben Angst vor der Reaktion ihrer Umgebung. Sie versuchen ihre Beschwerden zu verbergen und haben Hemmungen, sich anderen gegenüber zu öffnen und Hilfe zu holen. Der Leidensdruck ist hoch und Unterstützung kann durch Scham- und Schuldgefühle oft erst spät angenommen werden. Dabei ist gerade in den Jahren der Pandemie klar geworden, dass psychische Erkrankungen häufig sind und jeden treffen können. Dadurch, dass bekannte Persönlichkeiten über ihre eigenen psychischen Erkrankungen öffentlich sprechen, werden diese auch vermehrt wahrgenommen, gesellschaftsfähig. So ist Alexander Huber von den Huber Brüdern, z. B. das Gesicht des Krisendienstes. Er spricht ganz offen über seine seelische Erkrankung und hat auch ein Buch darüber geschrieben.

Spielt ADHS im Zusammenhang mit Depressionen eine Rolle?

Dr. Mentrup: ADHS ist eine typische Erkrankung des Kindesalters, kann aber bis ins Erwachsenenalter persistieren. Außerdem gibt es immer wieder erwachsene ADHS-Patienten, deren Erkrankung im Kindesalter nicht erkannt wurde. Insgesamt sind circa 2,5 Prozent der Erwachsenen an ADHS erkrankt. Häufig bestehen bei ADHS-Patienten zusätzliche andere psychische Erkrankungen, führend dabei sind Depressionen und Suchterkrankungen. Bei bislang undiagnostiziertem ADHS kommen erwachsene Patienten häufig wegen anderer psychischer Erkrankungen zu mir, deren Behandlung dann zunächst im Vordergrund steht. Ergeben sich anhand der Beschwerden Anhaltspunkte für ein zusätzliches ADHS, ist eine Diagnostik und Therapie auch im Erwachsenenalter sinnvoll und trägt auch zur Verbesserung der Depression bei. 

Herzlichen Dank für Ihre Zeit und das Interview!

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