“Schau mal, da vorne stirbt einer”

Schnell mit dem Smartphone ein Foto oder Video machen. Egal wo, egal wann – einmal kurz den Finger bewegt, und schon ist die Situation im Kasten. Doch wenn dabei vergessen wird, dass ein Mensch vor der Kamera in Gefahr schwebt oder Opfer eines Übergriffes wird, wird aus der Lust am Dokumentieren gefährliche Rücksichtslosigkeit.

Filmen statt eingreifen  - die Lust an der Sensation / Foto: dpa/Schimkus
Filmen statt eingreifen – die Lust an der Sensation / Foto: dpa/Schimkus

Ein Kommentar von Nicole Kleim:
Der Mensch liebt Dramatik. Nicht, wenn er selbst auf der Bühne steht, sondern dann, wenn er den Platz des Zuschauers einnimmt. Als am vergangenen Wochenende zwei Männer einen 18-Jährigen auf dem Kreuther Waldfest krankenhausreif schlagen, schmeißt keiner der Umstehenden sein Mobiltelefon weg, um ihm beizustehen.

Ein beherztes Eingreifen in brenzligen Situationen ist den meisten vielleicht noch von Superman vertraut, oder von Lara Croft, aber von Lieschen Müller? Wie sonst ist zu erklären, dass Schaulustige Rettungsarbeiten durch ihr „Gaffen“ behindern, Zugangswege versperren und das Risiko eingehen, im schlimmsten Fall für den Tod eines Menschen mitverantwortlich zu sein?

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Sicherlich tragen die Medien einen Teil dazu bei, Angst und Sensationslust zu schüren. Mit Bildern und Geschichten von Menschen beispielsweise, die anderen versuchen zu helfen und selbst dabei umkommen. Auch die Gier nach Anerkennung und Unterhaltung in den sozialen Netzwerken bringt viele Nutzer dazu, schockierende Videos hochzuladen. Der Klick zählt, nicht das „Drama in Echtzeit“.

Die Gier nach Anerkennung

Unzählige Schreckensbilder kursieren weltweit durchs Netz, an die man sich mit der Zeit gewöhnt. Ein Unfall im echten Leben scheint nur ein abgeschwächtes Abbild dessen zu sein, was sich sowieso tagtäglich vor den Augen des Facebook-Users beinah im Minutentakt abspielt. Warum also eingreifen?

Dabei ist Blut im wirklichen Leben definitiv ein Schock. Die Angst, selbst zum Opfer zu werden, lähmt mindestens genauso. Da bleibt der erstarrte Finger automatisch auf dem Auslöser kleben. Auch die Panik davor, etwas falsch zu machen, schwächt die Entschlossenheit. Stabile Seitenlage? Manche verbinden damit eher eine Löffelchenstellung als eine Sicherstellung freier Atemwege. Wenn der Erste-Hilfe-Kurs schon eine Weile zurückliegt, kommt die Angst dazu, die Situation für den Betroffenen zu verschlimmern. Das hemmt genauso wie die Angst, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Doch eines ist klar: Helfen ist Pflicht. Und jede „Unterlassene Hilfeleistung“ eine Straftat. Es braucht sicher keine härteren Strafen zur Abschreckung. Es braucht Menschen, die genug Vorstellungskraft haben, ihre Rolle in diesem Drama zu wechseln. Menschen, die wissen, wie sich die Untätigkeit der Anderen anfühlt, und die den Mut haben, im entscheidenden Moment das Handy fallen zu lassen.

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