Spielraum für Menschlichkeit

Ziemlich genau vor einem Jahr demonstrierten die Holzkirchner Asylbewerber vor dem Rathaus für  bessere Unterbringungsbedingungen. Nun schreibt DER SPIEGEL vom „gefühlten Ende der Flüchtlingskrise“ während CSU-Eminenz Stoiber erneut Merkels Flüchtlingspolitik scharf kritisiert. Zeit für eine Momentaufnahme zum Thema Asylbewerber in Holzkirchen.

Heute Morgen um kurz nach neun machten sich die Asylbewerber auf den Weg. Weit laufen mussten sie aber nicht: Die Gemeinde hat ihnen einen abgesperrten Bereich vor dem Jugendzentrum zugewiesen. Bis Sonntagabend gilt die Verfügung.
Im August 2015 demonstrierten Holzkirchner Asylbewerber vor dem Rathaus.

„Wenn ich an den Protest unserer Asylbewerber vor dem Rathaus im letzten Sommer zurückdenke“, so der Holzkirchner Integrationsbeauftragte Franz Lutje, „muss ich sagen, dass das eigentlich ganz gut gelaufen ist. Diese Menschen haben von ihrem demokratisch verbrieften Recht auf Demonstration Gebrauch gemacht – bei 40 Grad Celsius in den Containern und der Aussicht, vielleicht mit der Aktion den Umzug in das leerstehende Polizeigebäude erreichen zu können, war das menschlich nachvollziehbar.“

Es sei in dem Moment freilich zunächst ein Stimmungskiller in der Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen gewesen, so Lutje, der sich aber im Nachhinein als „reinigendes Gewitter“ herausgestellt habe:

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Auch diese Auseinandersetzung hat zu einem beidseitigen Lerneffekt beigetragen, dass einerseits wir vom Helferkreis zu einer Art Umdenken gezwungen waren – einer Art Umdenken im Helfen, dass schnell und viel nicht unbedingt schnell und viel hilft. Und andererseits auch die Asylbewerber gemerkt haben, was sie selber können und was eben nicht.

Das letzte Jahr, so hört man heraus, war geprägt von einem Erkenntnisprozess: Integration braucht Geduld. „Erwachsene Menschen in einer neuen Umgebung mit Kursen zu überhäufen und zu denken, das würde nach drei Monaten funktionieren, wäre zu kurz gesprungen“, resümiert Lutje.

Keine Kultur der Angst

Unweigerlich streift das Gespräch dabei Kanzlerin Merkels vielzitiertes „Wir schaffen das“: Mit diesem Schaffen könne eben nicht dieses „fertig integriert nach wenigen Monaten“ gemeint sein, sondern die Einsicht, gemeinsam die Dinge anzugehen.

Die Dinge seien nicht grundsätzlich in Frage zu stellen, nur weil sich in einer Traglufthalle mal einer daneben benimmt. Traumatisierte Menschen aus verschiedenen Kulturen auf engstem Raum – all das sei erstmal ganz normal und menschlich zu bewerten und man dürfe es nicht für eine Kultur der Angst ausschlachten:

Einwanderung und die damit verbundenen Herausforderungen wird es immer geben. Die Welt, der Handel, die Wirtschaft, die Wissenschaft – all das ist bereits global und multikulturell. Also sind es die Gesellschaften auch. Und das ist nur hinzubekommen, wenn es Spielräume für die Menschlichkeit gibt.

Behörden, Helfer, Asylbewerber – allen Beteiligten gelänge der Schulterschluss zu einem immer souveräneren Umgang mit dem Thema gut, allen kommunalpolitischen Unberechenbarkeiten zum Trotz, davon ist Lutje überzeugt.

Bei etwa 1.000 Asylbewerbern im Landkreis, davon allein zirka 180 in der Holzkirchner Halle am Moarhölzl, wird Geduld, Besonnenheit und die Bereitschaft zur Integration in kleinen Schritten gefragt sein. Nach jeder Anerkennung des Asylantrages erfolgt die Meldepflicht in der Gemeinde, in der der Asylbewerber zuletzt gelebt hat.

Hier sieht Bürgermeister Olaf von Löwis  eine enorme zusätzliche Belastung auf die Marktgemeinde zukommen:

Anerkannte Asylbewerber sind de facto im ersten Moment nichts anderes als obdachlose Holzkirchner. Das benachteiligt vor allem die Kommunen, die durch die Hallen sehr viel Asylbewerber aufgenommen haben – daher sind wir wirklich auf Solidarität im Landkreis angewiesen. Unter anderem Fischbachau und Bayrischzell haben uns schon Unterstützung zugesagt.

Während für die anerkannten Asylbewerber also die Suche nach Wohnraum im ohnehin bereits angespannten Wohnungsmarkt im Landkreis beginnt, braucht es zudem nach der geplanten Auflösung der Traglufthallen in Holzkirchen und Rottach für die noch nicht anerkannten Bewerber eine Lösung – sprich Unterkunft.

Die Suche nach einem dauerhaften Dach über dem Kopf kann durchaus als intensiv bis fieberhaft bezeichnet werden. Auch wenn es hier Anzeichen einer Zusammenarbeit mehrerer Landkreise gibt, sind der Flexibilität Grenzen gesetzt. Man könne Asylbewerber, so Lutje, die sich hier ein soziales Netz aufgebaut haben, auch nicht in jedem Fall so ohne weiteres nach beispielsweise Waldkraiburg verpflanzen.

Putzen ist keine Perspektive

Für die soziale Integration gelten Ausbildung und Beschäftigung als maßgeblich – ganz in diesem Sinne wurden von Lutje und seinen Mitstreitern im vergangenen Jahr der „Pakt für Integration und Arbeit“ – kurz PIA – im Landkreis Miesbach ins Leben gerufen, wo sich in den umgangssprachlich als „Asylwerkstätten“ bezeichneten Einrichtungen Flüchtlinge neben fachsprachlichem Deutschunterricht als Industriemechaniker weiterbilden können:

Egal, ob es diese Leute dauerhaft hier bleiben, woanders in Deutschland eine Bleibe finden oder diese Fähigkeiten später wieder in ihren Heimatländern anwenden – Qualifikation schafft Perspektive, so oder so. Lebenslang Putzkraft zu sein ist hingegen keine.

Berührungspunkte mit dem heimischen Arbeitsmarkt schaffen, Fußballturniere ausrichten, Unterricht und Sprechstunden organisieren – der Helferkreis agiert auf vielen Ebenen für ein Stück Menschlichkeit und Perspektive, das in einem wohlhabenden Land selbstverständlich sein sollte.

Franz Lutje Integrationsbeauftragter Holzkirchen
Franz Lutje, der Integrationsbeauftragte der Marktgemeinde in der Traglufthalle am Moarhölzl

Dennoch haben Lutje und sein Team eine Angelegenheit besonders im Auge: Den Kampf gegen die Angst, die Vorurteile und den Rassismus: Auch wenn Attacken gegen Helfer bislang ausgeblieben wären, sei es doch deutlich wahrnehmbar, dass es gerade bei jungen Menschen aus Gruppendynamiken heraus irgendwie cool sei, gegen Flüchtlinge zu sein.

Diese jungen Leute gilt es natürlich zu erreichen, egal ob in den Schulen oder in der Freizeit. Denn meine Erfahrung war bislang ausnahmslos, dass es nur erste Berührungspunkte mit einem Flüchtling braucht. Ein Fußballspiel, gemeinsam ein Festl aufbauen oder nur zusammenhocken – dann heißt es eigentlich immer: „Der is’ ja voll in Ordnung.“

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